Weniger «füdleblutti Fakte»

Weniger «füdleblutti Fakte», mehr «gläbti Wohrheit»

Von Alexander Sury.
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Hochstapler und Aufsteiger: Pedro Lenz erzählt von einem Emmentaler Auswanderer, der in Argentinien eine Siedlung gründete.

«Zuelose, e besorgte Gring mache»: Pedro Lenz.

«Zuelose, e besorgte Gring mache»: Pedro Lenz.
Bild: Adrian Moser

Im mondänen Gran Café Tortoni in Buenos Aires erzählt 1913 ein gewisser Senor «Ouguscht Wingeier», jovialer Fürsprecher im Vorruhestand, einem namenlosen Schweizer Korrespondenten die unglaubliche Lebensgeschichte seines Vaters – «e gwautigi Figur, e geborene Aafürer». 50 Jahre blendet er zurück und macht auch gleich deutlich, wie seine Geschichte gestrickt ist: «Eis si di füdleblutte Fakte / und das, wo de vor erfahrsch, /das isch di gläbti Wohrheit.» Dieser Vater also, ein Truebschacher namens Peter Wingeier, war einer, «wo immer meh het wöue, aus nim eigetlech zuesteit». Verheiratet mit einer Bernburgerin, versucht er sich als Uhrenfabrikant und macht sich schliesslich nach dem Griff in die Mündelkasse aus dem Staub – Frau und zwei Kinder zurücklassend.

Auf der Überfahrt nach Argentinien lernt er den Langnauer Arzt Theophil Romang kennen, der noch auf dem Schiff überraschend stirbt. Kurzerhand kauft Wingeier der Witwe die Papiere des verstorbenen Ehemanns ab und schlüpft so in eine neue Identität. Wenn jemand so plötzlich vom Uhrenfabrikanten zum Doktor werde, doziert der Sohn ein halbes Jahrhundert später, müsse er nicht als Erstes Medizin studieren: «Nei, de muesch aus Erschts grad lehre, / wi sech e Doktor verhautet.» Und wie verhält er sich? «Zuelose, e besorgte Gring mache.»

In Argentinien angekommen, arbeitet er zunächst als Arzt in der Schweizer Siedlung Helvecia und gründet später die nach ihm benannte Siedlung Romang; dafür kann er der Regierung unbesiedelten Boden «abschnorre». Mit Landverkauf wird er schliesslich reich, lässt sich eine Villa im Kolonialstil bauen und später Sohn und Tochter nachkommen; die Ehefrau jedoch stirbt in der alten Heimat.

Recherchen vor Ort

Für das Magazin «Reportagen» war Pedro Lenz («Dr Goalie bin ig») im vergangenen Jahr nach Argentinien gereist und hatte im Dorf Romang, 300 Kilometer nördlich der Provinzhauptstadt Santa Fé, recherchiert – in der ehemaligen Siedlung, die Wingeier alias Romang vor 150 Jahren gegründet hatte und in der seine Büste aus Bronze steht. Die prosperierende Siedlung mit einer Hafenanlage am Fluss zog viele Polen und Ukrainer an, aber das Schweizerdeutsch war auf den Strassen lange Zeit noch zu hören. Lenz liess ich Geschichten von Einheimischen erzählen, besuchte Friedhof und Ortsmuseum und besichtigte das vom Gründervater erbaute Wohnhaus.

Das gewonnene Material zu einer Reportage verarbeiten, das widerstrebte dem 48-jährigen Mitglied des Spoken-Word-Ensembles «Bern ist überall» zusehends; es drängte ihn vielmehr, die «bemerkenswerte Geschichte eines Emmentaler Siedlers» (so der Untertitel) literarisch zu verarbeiten. Herausgekommen ist mit «I bi meh aus eine» ein langes, mitunter auch sprachspielerisch-lautmalerische Gefilde streifendes Prosagedicht in Mundart sowie ein Bühnenprogramm, das Lenz zusammen mit dem Pianisten Patrik Neuhaus entwickelte.

Die Rahmenhandlung hat nicht zuletzt auch die Funktion, die begleitenden Tangoklänge historisch stimmig einzubetten – entstand doch diese genuine argentinische Musikform erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Geschichte des betrügerischen Abenteurers formt Lenz zur prägnant erzählten Chronik eines unaufhaltsamen sozialen Aufstiegs. Seinem Sohn verrät er einmal, was ihn von seinen tüchtigen Konkurrenten, den Ramseiers, unterscheidet: «Üses Gheimnis isch d Hautig, Guschti. Mir Romangs maches mit der Hautig.»

Der gute Ertrag des Darlehens

Der Sohn zieht aber zum Verdruss des Vaters das Leben in der Metropole vor – «Aber so wie du e Gründer bisch, / so bin ig e Fründ vor Stadt» –, studiert in Buenos Aires die Rechte und kehrt erst zur Beerdigung des Vaters wieder ins Dorf Romang zurück. Der alte Patriarch hinterlässt dem Filius indes noch eine juristische Knacknuss, war er eben zu Lebzeiten «meh aus eine». Um das Erbe von Vater Romang antreten zu können, muss Sohn Wingeier nach Trubschachen zurückreisen, alte Schulden begleichen und seine Geburtsurkunde beschaffen.

Im Gran Café Tortoni kann sich Ouguscht Wingeier, ehe er zu Abendvergnügen aufbricht, gegenüber dem stummen Korrespondenten zufrieden Bilanz ziehen über diese Schweizer Auswanderungsgeschichte: «Ds Darlehe us der Mündukasse / het e gueten Ertrag abgworfe.» (Der Bund)

Erstellt: 30.10.2013, 14:21 Uhr


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