Terra incognita – Argentinien

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Donnerstag
18. Oktober 2012
11:40

"Roderers Eröffnung". Von Guillermo Martínez. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Es liest Alexander Strömer. Gestaltung: Friederike Raderer

Es war eine ungewöhnliche Schachpartie. Roderer wirkte, als hätte er keinen Plan, spielte völlig willkürlich, ignorierte feindliche Angriffe und postierte Figuren an Stellen, wo sie wie eliminiert wirkten. Es gab keine sichtbare Bedrohung, und doch verstärkte jeder weitere Zug die dunkel drohende Gefahr. Bis Roderers Gegner sich endlich eingestehen musste, dass das Spiel für ihn in einer unausweichlichen Niederlage enden würde.

Guillermo Martínez

Schach in der Literatur

Es gibt eine große Zahl von Geschichten, die sich um das königliche Spiel drehen. Aber das Hauptinteresse der Autoren scheint weniger am Verlauf, sondern eher an den besonderen Bedingungen eines Schachspiels zu liegen. Und am Seelenleben der Spieler.

Eine der bekanntesten Schach-Geschichten ist "Die Schachnovelle". Stefan Zweig schrieb sie im brasilianischen Exil als leidenschaftliche Anklage gegen den Faschismus, denn sie handelt von einem Mann, Dr. B., der durch die monatelange Einzelhaft in einer Zeller der Gestapo in zwei Persönlichkeiten zerfiel: in "Ich-Schwarz" und "Ich-Weiß". Es war ihm gelungen, durch das Nachspielen von berühmten Schachpartien im Kopf seinen Verstand zu retten. Als er nach einem Zwischenfall aus der Haft entlassen wurde, schwor er sich, nie mehr wieder Schach zu spielen. Doch per Zufall begegnet er auf einer Schiffspassage nach Brasilien einem dubiosen Schachmeister, dessen Herausforderung er sich nicht entziehen kann, was ihn beinahe in den Wahnsinn treibt.

Stefan Zweig war kein Schachspieler und hatte auch keinerlei Kontakt zur Schachszene. Nur so konnten sich schachspezifische Fehler einschleichen. Dass zum Beispiel ein Profispieler nicht in der Lage wäre, eine Partie ohne Sicht aufs Brett zu spielen, ist so gut wie unwahrscheinlich. Einzelheiten zu den Partien dürfte Zweig einem Sachbuch entnommen haben, das man in seinem Nachlass gefunden hat: "Das hypermoderne Schachspiel" von Savielly Tartakower. Zweig hatte für jene Partie, bei der sich die Gegner des Profis absprechen durften, eine Partie von Alexander Aljechin gewählt, dem damaligen Schachweltmeister.

Und immer wieder Alexander Aljechin

Aljechin taucht in den verschiedensten Schachgeschichten auf, zum Beispiel in dem von Schachspielern hoch geschätzten Roman "Lushins Verteidigung" von Vladimir Nabokov, oder in "Aljechins Gambit" von Gerhard Josten, in "Zugzwang" von Ronan Bennett, im Roman "Die letzte Partie" von Fabio Stassi, und nun auch in "Roderers Eröffnung" von Guillermo Martínez. Während Nabokov, Stassi, Josten und Bennett in ihren Geschichten Details aus Aljechins Leben verarbeiteten, stellt Guillermo Martínez seine beiden Hauptfiguren in der ersten Szene des Romans Schach spielend vor, wobei der eigenartige junge Mann namens Roderer den ersten Zug seinen Gegners mit der sogenannten Aljechin-Verteidigung beantwortet, mit dem Zug des Königsspringers auf f6, wo er den eröffnenden weißen Königsbauern bedroht.

Was macht Aljechin so interessant? Dass er einer der spielstärksten Schachspieler der Geschichte war? Dass er siebzehn Jahre lang Weltmeister gewesen ist? Dass er unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen ist? Oder doch, dass er ein Besessener war?

Ausnahmetalent

Mit 15 Jahren nahm der russische Adelsspross an seinem ersten internationalen Turnier teil, mit 16 errang er beim Moskauer Schachturnier seinen ersten Sieg. Er stürmte weiter von Sieg zu Sieg und erwarb sich so die Berechtigung, am bedeutendsten Turnier der Zarenzeit teilzunehmen, am Großen Turnier von St. Petersburg 1914, und traf dort auf den führenden Weltmeister Emanuel Lasker sowie auf dessen Herausforderer José Raul Capablanca. Aljechin gelang es, das Turnier als Drittplatzierter zu beenden. Er und die anderen vier Mitspieler an der Spitze - Emanuel Lasker, José Raul Capablanca, Siegbert Tarrasch und Frank James Marshall - wurden von Zar Nikolaus II. mit dem Titel "Großmeister" ausgezeichnet.

Ab jetzt begann das Leben des nunmehrigen Schachgroßmeisters, Kapriolen zu schlagen: der Erste Weltkrieg brach aus, Aljechin ging an die galizische Front. 1919 wurde er in Odessa wegen Spionageverdachts verhaftet, er stand auf der Seite der Weißen. Angeblich hatte Trotzki während der Haft mit ihm Schach gespielt.

Aljechin kehrte nach Moskau zurück, arbeitete als Jurist für die Miliz und als Übersetzer für Komintern. 1921 emigrierte er, zog nach Paris, besiegte 1927 völlig unerwartet den führenden Schachweltmeister Capablanca, verlor 1935 gegen Max Euwe, gewann das Revanchespiel und war wieder Schachweltmeister.

Ungeklärter Tod

Ideologisch war sein Leben immer... sagen wir "mäandrisch". Erst unpolitisch, dann zaristisch, dann antibolschewistisch, dann im Dienst der Bolschewiki, dann wieder antibolschewistisch und in Folge den antibolschewistischen Ideen der Deutschen nicht abgeneigt. Sein latenter Antisemitismus wuchs, was ihn in der Schachwelt völlig diskreditierte. Er suchte Zuflucht vor der anrückenden Roten Armee in Francos Spanien - und im Alkohol.

Er versuchte nach dem Verlust seines Titels 1946 wieder an einem Weltmeisterschaftskampf teilzunehmen. Am 24. März 1946 wurde er tot in seinem Hotelzimmer in Estoril aufgefunden. Die Umstände dieses Todes wurden nie geklärt, auch die Gerüchte, er wäre vom russischen Geheimdienst ermordet worden, konnten bislang nicht entkräftet werden.

In der Literatur lebt Aljechin weiter, nicht nur in der Fachliteratur zum Schachspiel, sondern auch in diversen Romanen.

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Gestaltung:
Friederike C. Raderer

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