Tango, Montevideo, Buenos Aires und die Unfassbarkeit des Begehrens – FAZ

Wann genau und wo der erste Tango getanzt wurde, weiß niemand – und die Frage nach einer Erfinder-Figur ist deshalb unpassend. “1850-1900, Argentinien und Uruguay” vermerkt die Wikipedia unter “kulturellem Ursprung.” Ähnlich vage sind die Auskünfte, was die Formengeschichte des Tangos angeht: “Polka, Flamenco, Habanera, Milonga,” der Berliner “Schieber,” meinen viele Fachleute, sollte dazukommen und der “Flamenco’” gestrichen werden (was ich überzeugend finde). Immerhin scheint festzustehen, dass viele, nicht allein lateinamerikanische Gesten der Choreographie im Tango verschmolzen sind (seit eigenen Jahren lieben es die selbsternannten “Kulturwissenschafter” ja, Phänomene dieser Art “hybrid” zu nennen), und außerdem stellt niemand die traditionelle Annahme in Frage, dass der Tango von billigen Kneipen und Bordellen der Vorstädte von Buenos Aires seinen Ausgang nahm — zu einer Zeit, als in Folge eines lange nicht versiegenden Stroms hektischer Einwanderung (Argentinien, glaubte die Welt damals, sei ihre Zukunft) mehr als drei Viertel unter den dort Ansässigen und gerade Angekommenen Männer waren. Kein Wunder also, dass auf historischen Zeichnungen (Photos waren in diesem Milieu unerschwinglich) oft zwei Männer Tango tanzen, was gewiss zur Suggestion für eine Tango-Renaissance in der Schwulenszene wurde – die freilich längst übertrumpft ist von der Ermutigung des sogennanten “Gay Tango,” dass keinesfalls so etwas wie ein “Schwulen-Ausweis” vorzulegen sei, wenn zwei (vermeintlich oder wirklich) heterosexuelle Männer zusammen Tango tanzen wollen.

Außerhalb der in Deutschland immer noch existierenden “Tanzschulen” und des in Australien so beliebten “balldroom dancing,” in Buenos Aires und in Montevideo vor allem, sollen die Choreographien der beiden Tango-Tänzer (welchen Geschlechts auch immer) gerade nicht aufeinander abgestimmt sein. Das führt zu einer grundsätzlichen Asymmetrie, zu einer Asymmetrie der Bewegungsformen und zu einer Reaktion aus sanfter Gewalt: einer der beiden Tänzer, bei Paaren aus zwei Geschlechtern vor allem der Mann, legt dem anderen oder der anderen seinen eigenen Rhythmus und die eigenen Schrittfolgen auf (“comando” nennt man dies ganz unverstellt im argentinischen Spanisch). Daraus folgt notwendig eine Nähe der Körper, vor allem der Hüften, die erotisch aussieht und Begierde weckt. Und diese Wirkung wird noch gesteigert durch ein Repertoire von Tango-typischen Gesten: durch das zwischen die Beine der Partnerin geschobene Knie (das an den “Schieber” erinnert), durch das bis zur Körpermitte geschlitzte Kleid, durch Momente, wo beide Oberkörper beinahe horizontal übereinander einzuhalten scheinen. Doch was wie Leidenschaft aussieht und immer Leidenschaft erregen kann, soll sich in einer eigentümlichen Distanz vollziehen. Nach drei Minuten, wenn der Tango zuende gegangen ist, trennen sich die nur auf Zeit verschlungenen Körper wieder und gehen ihrer eigenen Wege, auch ihrer eigenen erotischen Wege. Die Form des Tangos lässt so alle Arten von Begierde auflackern, aber seine Form hält die Begierde nicht fest. Vielleicht erklärt diese Bedingung, warum die berühmten professionellen Tango-Paare von Buenos Aires, die für wenige Augenblicke und wie plötzlich in einem Restaurant oder einer Bar erscheinen, typischerweise Männer und Frauen im letzten Lebensdrittel sind (nie werde ich Elvira y Virulacio vergessen, zwei mindestens siebzig Jahre alte Tänzer, die vor einem Vierteljahrhundert in der Nähe der Calle Corrientes auftraten), und es mag ebenfalls mit der Flüchtigkeit der Begierde zu tun haben, dass nicht wenige Argentinier und Uruguayer erzählen, sie hätten den Tango von ihren Großeltern gelernt.

Vor zehn Tagen war ich in Montevideo, jener Stadt, deren schöner Name Vorstellungen von besseren Tagen heraufbeschwört, wie sie die heruntergekommenen Fassaden ihrer Avenidas gesehen haben müssen (es könnte die Zeit vor 1930 gewesen sein, als man Uruguay “die Schweiz Lateinamerikas” nannte, dort den hundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit von Argentinien feierte, für einige Wochen auf den ersten “Wolkenkratzer” des Subkontinents stolz war und eingeladen hatte zur ersten Fußball-Weltmeisterschaft, welche am Ende die gastgebende Nationalmannschaft vor mehr als siebzigtausend Zuschaürn mit 4:2 gegen Argentinien gewann). Meine beiden Freunde in Montevideo haben ein langes Leben zusammen verbracht und zeigten mir (nach einem kleinen kulturellen Ereignis in der deutschen Botschaft) “Fun-Fun,” ein Restaurant mit Bar im alten Hafen der Stadt, vor hundert Jahren angeblich von Holländern gegründet, “Fun-Fun,” das sich angestregte Authentizität nicht leisten kann, weil es auf jeden der wenigen Touristen angewiesen ist. An den Wänden hängen vergilbte Photos von Stars aus den dreißigen Jahren, an die sich auch hier niemand erinnert, neben Billigversionen von den Trikots beliebter Fußballclubs aus der ganzen Welt. Plötzlich stand ein junges Paar auf der winzigen Plattform neben unserem Tisch, der voll von Tellern und Gläsern war, zwei alte Männer setzen ein, auf dem Bandoneón und der Gitarre zu spielen, die Tänzer waren vollkommen schön, weshalb wir alle wussten, dass sie sich so bewegten, wie es anders nicht sein konnte im Tango, mit dem blau schimmernden Kleid und dem violett schimmernden Hemd, für eine kurze Enklave der Zeit, an deren Ende niemand denken wollte.

Später sah ich die beiden im Stehen Pommes frites essen, zwischen der Tür, aus der es kalt hineinzog, und der Theke, ohne Blicke füreinander. Er sprach mit aufregend gescheitelten, sie mit wohlig angetrunkenen Männern, aber da sang schon Olga, an die sich meine Freunde aus ihrer Jugend erinnerten, Olga, vorgestellt als “Legende des Tangos von Montevideo,” in einem tief ausgeschnittenen schwarzen Kleid, das wohl zu einer anderen Zeit ihres Lebens gehört haben musste. Olgas Stimme, stellte ich mir vor, war einmal umarmende Wärme gewesen, und sie sang von Liebe, Begehren und Schicksal natürlich, während sie feierlich zwischen den Tischen schritt, Gästen wie vertraut durchs graue Haar strich und den nächsten Tango mit dem Bandoneisten und dem Gitarristen absprach. Nach Olga kam nichts als kalte Aufzugmusik aus den gnadenlosen Lautsprechern von “Fun-Fun,” die Kellner wollten mehr Bestellungen, und wir standen schon an der Tür, auf dem Weg zum Parkplatz, fast auf der Flucht, uns zu schnell verabschiedend, um noch nach Adressen zu fragen, so als ob alles eine Überdosis gewesen wäre.

Zwischen dem alten Hafen und Carrasco, wo Lisa und Isaac wohnen, hatte Carlos Gardel, der große Carlos Gardel, dessen Stimme den Tango nach Hollywood brachte, bevor er am 24. Juni 1935 bei einem Flugzeugunfall in Medellín mit vierundvierzig Jahren starb, ein Haus für seine Mutter gekauft, eine Wäscherin aus Toulouse. Niemand weiß, wie beim Tango, wo Carlos Gardel geboren ist, in Toulouse, Montevideo, oder Buenos Aires – und wann genau. Von beiden Seiten des Rio de la Plata, von Montevideo und von Buenos Aires, hat er mit patriotischen Worten gesprochen, für beide Nationalmannschaften, die von Uruguay und die von Argentinien, ist er 1930 aufgetreten, und nie hat ihn jemand mit einer Geliebten gesehen. Doch in beiden Städten, sagt man bis heute, dass seine Stimme immer schöner wird (“cantás cada vez mejor, Carlitos”).

Im Jahr seines Todes, schon ein Weltstar, sang Carlos Gardel von der “Nacht, wenn Du mich lieben wirst, aus dem dunklen Blau des Himmels — und die Sterne voll Eifersucht auf uns blicken, wenn ein geheimnisvoller Strahl sich in Dein Haar einnistet, wie ein Glühwürmchen, das sieht: Du bist mein Trost.” Es gibt Texte, die schön sind, weil sie zuviele Worte haben und zuviele Gefühle, und andere, die – auf die Vergangenheit gewandt – lebendig werden aus Erinnerungen, Erinnerungen, die hinter der Gegenwart zurückbleiben, weil sie nie deutlich und voll genug gewesen sind. So ein Lied ist “Caminito: (“Kleiner Weg”) von 1926, einer der berühmtesten Tangos aus dem Repertoire von Carlos Gardel: “Mit Disteln bedeckter kleiner Weg, / die Hand der Zeit hat deine Spuren verwischt. / Ich möchte zu Boden fallen an deiner Seite, / damit die Zeit uns beide umbringen kann.” Immer liegt Erfüllung in der Vergangenheit, sie ist nicht mehr fassbar und nie fassbar gewesen, sie weckt Begierde, die nicht zu haben ist. Jorge Luis Borges hat einmal geschrieben, dass damals schon, 1926, der Tango gestorben war.

Für Borges ist der Tango nicht die Verkörperung und die Stimme des Begehrens, sondern ihr in die Ferne gerückter, unfassbarer Gegenstand. Wie beinahe alles in Montevideo und Buenos Aires
– wo ich eines Tages mit Tanja und Jan sein werde, um ihnen zu gratulieren.

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