Streit um Kulturprojekt in Buenos Aires

Inseln sind seit je mythische Territorien, wofür es zahlreiche Gründe gibt, etwa das so unwahrscheinliche Überleben Robinson Crusoes mitten im Pazifik, die Besessenheit, mit der Jorge Luis Borges sich mit Island beschäftigte, die Entdeckungen, die Charles Darwin auf den Galapagos-Inseln machte, oder die Sirenen, die Odysseus in ihren Bann zu schlagen suchten.

Für Inseln gilt: je unbekannter, desto besser. Kein Wunder also, dass die Ankündigung des argentinischen Präsidialamtes, 2013 werde auf der Isla Demarchi mit der Errichtung eines «Polo Audiovisual» begonnen, eines riesigen Medienzentrums, das der argentinischen Filmindustrie einen kräftigen Anschub verleihen solle, solches Aufsehen erregte. Von dieser Demarchi-Insel, angeblich eine unbesiedelte Einöde, hatte bis dahin kaum jemand etwas gehört. Was sich unter anderem daran zeigte, dass der Name in den ersten Artikeln zum Thema wiederholt falsch geschrieben wurde («Isla De Marchi»), so als gehörte diese Insel einem Herrn oder einer Frau Marchi, während sie in Wirklichkeit bereits Ende des 19. Jahrhunderts von einer Familie Demarchi dem argentinischen Staat vermacht worden war.

Keine «Wüste»

Diese und noch wesentlich bedeutsamere Einzelheiten erfuhr ich, als es mir gelungen war, die Demarchi-Insel, die eine halbe Stunde vom Stadtzentrum von Buenos Aires entfernt liegt, ausfindig zu machen und ihr einen Besuch abzustatten. Oscar Verón empfing mich dort in seinem Büro mit den Worten: «Diese Insel ist keine Wüste.» Verón ist der örtliche Vertreter der Gewerkschaft der Arbeiter der Dirección Nacional de Vías Navegables, also der staatlichen argentinischen Wasserwegedirektion, die sich auf der Demarchi-Insel befindet. Veróns Begrüssungsworte zielten auf die Formulierungen ab, mit denen das Projekt von der Regierung und den ihr nahestehenden Medien der Öffentlichkeit vorgestellt wurde – demgemäss handelt es sich bei der Demarchi-Insel um «ein Gebiet ohne jeden praktischen Wert» (Präsidentin Kirchner), «ein nahezu leeres, brachliegendes Stück Land» (so die Tageszeitung «Página 12»), und «die historischen Gebäude darauf warten schon seit Jahrzehnten auf eine neue Nutzung» (wie das offizielle Präsentationsvideo der Regierung verkündet).

Das Wort «Wüste» wählte Verón mit Bedacht, war es als Metapher in der argentinischen Geschichte doch immer wieder von geradezu tödlicher Bedeutung, insbesondere als man Ende des 19. Jahrhunderts die angeblich leeren – soll heissen: noch nicht von weissen Siedlern und dem Fortschritt in Besitz genommenen – Weiten Patagoniens mit diesem Ausdruck belegte. Deren Eingliederung in den neu entstehenden Staat Argentinien ging einher mit der Auslöschung der ursprünglichen indigenen Bevölkerung. Anders gesagt, das Wort «Wüste» weckt hierzulande nicht unbedingt Anklänge an Lawrence von Arabien in Breitwandformat oder an sich unendlich weit erstreckende, golden schimmernde paradiesische Sanddünen.

Oscar Verón hat allen Grund, so vorzugehen, spricht er doch im Namen von Leuten – insgesamt sind es über tausend –, die schon seit Jahren, zum Teil seit Jahrzehnten täglich auf der Demarchi-Insel ihrer Arbeit nachgehen. Juan Manuel Rodríguez etwa, heute der Leiter der Reparaturwerkstätten, arbeitet hier seit den sechziger Jahren, und davor studierte er an der Nationalen Fachschule für Flussschifffahrt, die sich ebenfalls auf der Demarchi-Insel befindet. «Diese Schule ist die letzte, die übrig ist», erklärt er mir, während er mich auf meinem Inselrundgang begleitet. In den vierziger Jahren gab es noch fünf solcher Schulen in Argentinien, in fünf verschiedenen Städten des Landes, doch die anderen vier wurden in den neunziger Jahren geschlossen.

Vieles, was die Insel in die gespenstische Szenerie verwandelt hat, als die sie sich heute darstellt, spitzte sich in ebenjenen neunziger Jahren zu, als hierzulande alles dem Diktat hemmungsloser Privatisierungen unterworfen wurde. Nichts davon, was ich auf meinem Spaziergang zu sehen bekomme, hat jedoch auch nur im Entferntesten mit irgendwelcher Wüstenromantik zu tun: Stahlskelette aufgegebener Werften, vor sich hin rostende Lagerschuppen, Überreste abgewrackter Schiffe oder beschädigte Schiffe, die am Quai liegen und vergeblich auf das Eintreffen der benötigten Ersatzteile warten. «Nur für die Schiffe von den Belgiern gilt das nicht, die haben alles, was sie brauchen, hier vor Ort gelagert, wenn bei denen was kaputtgeht, reparieren sie es sofort, und weiter geht die Reise», erzählt später Juan Manuel Rodríguez' Sohn – ausgerechnet in seiner Branche gilt die anachronistische Regel, dass die Kinder den Beruf der Eltern übernehmen. Das mit den «Belgiern» bezieht sich auf die Schiffe der Jan de Nul Group, eines vom Belgier Jan de Nul gegründeten Unternehmens, das sich dem Ausbaggern von Flüssen widmet und seinerzeit – neben einem weiteren Unternehmen, das mithilfe argentinischen Kapitals gegründet wurde – die Konzession für die wichtigste Exportroute des Landes erhielt, hochprofitable Durchfahrtsgebühren eingeschlossen.

Eine Visualisierung der Projekte auf der Demarchi-Insel.

Wann und wie die Herausbildung dieser postapokalyptischen Szenerie eingesetzt hat, ist also klar. Ebenso klar ist jedoch, dass die Massnahmen, die die gegenwärtige Regierung eingeleitet hat, um die Situation zu ändern, keineswegs vorsehen, einer Branche neuen Schwung zu verleihen, die sich der Instandhaltung der Flusswege widmet, von deren Funktionieren achtzig Prozent der argentinischen Exporte abhängen. Im Gegenteil, sie folgen dem Vorbild der Privatisierungen genau jenes Jahrzehnts, von dem sich dieselbe Regierung sonst unaufhörlich und laut distanziert. Dem geplanten Medienzentrum scheint dabei eine reine Feigenblattfunktion zuzukommen, oder, wie Pino Solanas sich ausdrückt: «Es ist ein einziger Schwachsinn.» – Solanas ist Filmregisseur und Parlamentsabgeordneter. Er hat einen Dokumentarfilm gedreht, der die Demarchi-Insel und die Rechte der dort arbeitenden Menschen verteidigt und die These vertritt, die argentinische Filmindustrie benötige keineswegs einen aufwendigen Komplex wie den geplanten «Polo Audiovisual»; in Wirklichkeit gehe es um Immobiliengeschäfte. Was sich durchaus zu bewahrheiten scheint: Im vergangenen September verfügte das Präsidialamt per Dekret, das Gebiet der Demarchi-Insel werde für den Hafenbetrieb nicht benötigt, und übergab es einer Aktiengesellschaft, deren Anteile natürlich von Privatleuten jeder Couleur erworben werden können. Anschliessend wurde ein Bebauungswettbewerb ausgeschrieben. Drei der fünf Unternehmen, die sich mit Projekten daran beteiligten, wurden ausgewählt. Zwei davon gehören Unternehmern, die unverkennbar in Beziehung zur Regierung stehen. Abgesehen von den unvermeidlichen Unterschieden verfolgen alle drei Projekte in erster Linie die Absicht, das Gebiet mit Luxus-Hochhäusern, Restaurants und Spielkasinos zu bebauen oder, anders gesagt, eine Art «Dubai des Südens» zu errichten, wie manche das Ganze bereits bezeichnen.

Feigenblatt der Immobilienspekulation

Dass es sich bei dem geplanten «Polo Audiovisual» nur um ein Feigenblatt der Immobilienspekulation handelt, wird auch in zwei Dokumenten vom August beziehungsweise November vergangenen Jahres angeprangert, die eine Gruppe Intellektueller mit dem Namen «Plataforma 2012» veröffentlicht hat. Einer der Autoren, Jonatan Baldiviezo, der auch Mitglied des Verbands der argentinischen Umweltanwälte ist, erklärt mir: «Es wird nicht mehr gebaut, um Wohnraum für die Bevölkerung bereitzustellen, es geht bloss noch darum, gewinnträchtig Geld anzulegen.» Was natürlich nicht für Durchschnittsbürger gilt, für die es immer schwieriger wird, an Kredite zu gelangen, sondern für Besitzer grosser Kapitalvermögen. Nach dem warnenden Hinweis, eines der entscheidenden Elemente des grandios gescheiterten «spanischen Wirtschaftswunders» sei die Immobilienspekulation gewesen, fügt Baldiviezo hinzu: «Dass riesige Hochhäuser errichtet werden, in die niemand einzieht und die in Wirklichkeit reine Spekulationsobjekte sind, ist nur möglich, weil der Immobilienmarkt in keiner Weise reguliert wird.»

Um zu einer Regulierung zu gelangen – sage ich mir, während ich weiter auf der zwei Hektaren grossen Insel umherspaziere –, müsste es gesetzgebende Institutionen geben, die darüber diskutieren, doch das Projekt, die Demarchi-Insel in das Dubai des Südens zu verwandeln, wird von beiden beteiligten Regierungen – der Landesregierung Argentiniens wie auch der Stadtregierung von Buenos Aires – in ungewohnter Einigkeit vorangetrieben, ohne jede Diskussion weder im nationalen noch im Stadtparlament, weder mit den vom Verlust ihrer Arbeitsplätze bedrohten Arbeitern noch mit ihren Gewerkschaftsvertretern, weder mit Intellektuellen von Vereinigungen wie «Plataforma 2012» noch mit Vertretern der Umweltverbände und erst recht nicht mit den streunenden Hunden, auf die ich einmal bei meinem Spaziergang stosse – sie leben seit Generationen auf dieser Insel, und wie mein Begleiter versichert, sind sie schon seit Monaten mit nichts anderem beschäftigt, als unaufhörlich zu bellen. «La isla Demarchi no se vende, se defiende», «Die Demarchi-Insel wird nicht verkauft, sondern verteidigt», hat jemand an die Wand des Schuppens gesprayt, der diesen Hunden, wie man mir erzählt, als Unterschlupf dient.

Die Argentinierin María Sonia Cristoff wurde 1965 in Trelew (Patagonien) geboren. Sie gilt als Meisterin der Reportage und verfasst auch erzählende Prosa. Diesen Frühling erschien bei Berenberg der Roman «Unter Einfluss». – Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.

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