Alles außer Brasilien – WESER

Sechs südamerikanische Länder will die Teilzeit-Reisejournalistin Marietta Slomka in 90 Minuten erkunden. Das ist ambitioniert, macht aber jetzt zur Fußball-WM Sinn, wo der Fokus der Welt auf dem "anderen" Amerika liegt. Ebenso vernünftig ist es, Brasilien in dieser Reportage außen vor zu lassen - nicht nur wegen seiner Größe und Vielschichtigkeit, auch weil über den Gastgeber der WM nicht zuletzt wegen der Proteste ohnehin viel gedreht und berichtet wird. Die "heute journal"-Moderatorin beginnt ihren Trip in der kolumbianischen Metropole Medellin, wegen der Drogenkriege einst so etwas wie die gefährlichste Stadt der Welt. Weiter geht es nach Ecuador und Peru. Im zweiten Teil von "Zwischen Anden und Amazonien" erkundet Marietta Slomka am Donnerstag, 26.06., 20.30 Uhr, Bolivien, Chile und Argentinien.

Medellin ist heute, 20 Jahre nach dem Tod des mythischen Drogen-Papstes Pablo Escobar, eine hippe Stadt für Touristen und Nachtleben-Fans. Doch fast jede Familie hat Tote aus jener Zeit zu beklagen, als man in Medellin schneller erschossen wurde, als man die Straßenseite wechseln konnte. Auf den Galapagos-Inseln, die zu Ecuador zählen, muss man urzeitliche Warane von den Loungemöbeln eines Cafes vertreiben, wo die Reisende mit Naturschützern über den Erhalt dieser einzigartigen Lebenswelt diskutiert. Sogar mit Hammerhaien ist Slomka getaucht, und das ganz ohne Privatfernsehen-mäßig einen auf Spannung und Gefahr zu machen oder das entspannte Gegenteil überzubetonen. Respekt!

In Perus Hauptstadt Lima fährt Marietta Slomka mit einer weiblichen Motorradstaffel der Polizei mit und muss erkennen, dass der südamerikanische Machismo zwar im Wandel, aber immer noch vorhanden ist. Auch die aufstrebende Küche Perus wird unter die Lupe genommen und schließlich am Titicacasee nach Bolivien übergesetzt, wo Teil zwei am Donnerstag anschließt. Die Bilder aus Bolivien, dem ärmsten südamerikanischen Land unter der sozialistischen Regierung von Evo Morales, sind die politischsten der gesamten Reisereportage. Es geht um eine junge, aufstrebende Politikerin, die ihren Präsidenten wie einen Heiligen verehrt, um eine Kindergewerkschaft und um Pressefreiheit. Den Abschluss der Reise bilden ein Trip nach Chile, der wohlhabenden "Schweiz" Südamerikas sowie dem wirtschaftlich krisengeschüttelten Argentinien.

"Ein gutes Leben führen" - so lautet das Fazit Slomkas - wollten die Menschen in Südamerika. Dabei lachen sie meist in die Kamera. Vielleicht unterscheidet dieser Optimismus trotz ungleich schwierigerer Umstände das Leben eines Südamerikaners am meisten von dem des Europäers. Um in dieses südamerikanische Lebensgefühl kurz reinzuschnuppern, ist Slomkas Reportage geeignet. Natürlich will Marietta Slomka überraschen. Geschichten erkunden, die jenseits von Panflöten und Kaffeeplantagen im gleißenden Sonnenlicht zu finden sind. Wenn man jedoch ein ganzes Land in durchschnittlich 15 Minuten erklären soll, dabei den Status Quo seiner Gesellschaft prüfen und dabei noch mit schönen Bildern für das Primetime-Publikum aufzuwarten hat, ist das sicher ein schwieriger Spagat.

Mehr als ein Bilderbogen, der einige Beispiele aktueller Entwicklungen und Probleme von sechs Ländern zeigt, kann man vom Zweiteiler "Zwischen Anden und Amazonien" nicht erwarten. Marietta Slomka ist erfahren und klug genug, in ihrem Film diese Balance zu wuppen. Die 45-jährige Nachrichtenfrau schafft das mit einem soliden Produkt, ohne dass dabei ein wirklich denkwürdiger Film herausgekommen wäre.

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