Es war ein bewegender Moment im Oktober, als im Wohnzimmer von Doris und Manfred Stiegemann zwei über 110 Jahre alte Andenken zum ersten Mal wieder vereint waren. Ein Reservistenkrug mit aufgemaltem Reiterbild und ein gleich gestalteter Pfeifenkopf standen da auf dem Tisch. Beide hatten einst Johannes Traugott Stiegemann gehört, dem dritten von sieben Kindern des Frankfurter Bäckermeisters Friedrich Gottlob Stiegemann. Bis 1900 hatte Johannes in der Kaiserlichen Armee gedient und gleich am Anfang des 20. Jahrhunderts mit Mitte 20 das Land in Richtung Südamerika verlassen. Mehr als ein Jahrhundert später saß nun die 25-jährige Argentinierin Brenda Stiegemann im Wohnzimmer an der Allende-Höhe. Über Facebook hatte die Urenkelin von Johannes ihre Frankfurter Verwandten gefunden. Ihr Urgroßvater war der Bruder von Manfred Stiegemanns Großvater Max.
Anderthalb Jahre E-Mail-Kontakt waren dem Treffen vorausgegangen. Manfred Stiegemann hat inzwischen einen dicken Hefter mit der Korrespondenz zwischen der Provinz Cordoba und Frankfurt gefüllt. Im Februar 2011 kam der Kontakt über seinen Neffen Udo zustande, der bei dem Internet-Netzwerk Facebook ein Profil hat, aber mit der Anfrage der argentinischen Stiegemann nichts anfangen konnte. Sein Onkel Manfred aber erinnerte sich an Erzählungen über den Auswanderer in der Familie und so schrieb er sich mit der jungen Argentinierin Mails, in denen Stammbäume und Fotos quer über den Atlantik geschickt wurden. Brenda schrieb auf Spanisch, die Frankfurter Stiegemanns auf Deutsch, den Rest erledigte ein Online-Übersetzungsprogramm. "Brenda hat sich so große Mühe gemacht, uns ihre Familie näher zu bringen, wie sie leben, wo sie sind", schwärmt Manfred Stiegemann von den Mühen der jungen Argentinierin.
Als sie schließlich im vergangenen Jahr einen Englisch-Kurs in London besuchte und anschließend mit ihren Eltern Federico und Patricia durch Europa reiste, war die Zeit für einen Frankfurt-Besuch gekommen.
Zusammen mit den Frankfurtern versuchten sie das Leben ihres gemeinsamen Verwandten Johannes zu rekonstruieren. Bekannt ist nur, dass er 1901 noch in Preußen gewesen war, denn aus diesem Jahr existiert ein Heimatschein. Der erste Nachweis aus Argentinien ist ein Pass aus dem Jahr 1915. Gegangen ist er wohl aus wirtschaftlicher Not, nachdem seine Sattlerei in Frankfurt nicht erfolgreich war. "Die Großeltern sprachen davon, dass er eine Farm in Argentinien hatte", erinnert sich Manfred Stiegemann. Er bereut noch heute, dass er mit seinem Großvater nicht ausführlicher über dessen Bruder gesprochen hat. Und so ist nur bekannt, dass Johannes - oder Juan Ernesto, wie er sich in Argentinien nannte - eine deutsche Frau heiratete und mit ihr einen Sohn und eine Tochter bekam.
Doch bei dem Besuch wurde nicht nur die Vergangenheit bemüht. Die Frankfurter zeigten den Argentiniern die Stadt, die Grenze und die Universität. Die Viadrina war Brenda dabei durchaus ein Begriff, hat ihre Universität in Cordoba doch einen Partnerschaftsvertrag mit der Europa-Universität. Ihre Mutter Patricia zeigte sich vor allem erstaunt über die Leere in der Staadt, etwa als sie auf dem Weg zur Grenze durch die Große Scharrnstraße liefen. Ein ganz persönlicher Halt der Besichtigungstour war die ehemalige Familienbäckerei in der Großen Müllroser Straße. Trotz aller Sprachbarrieren verstand man sich an diesem Tag sehr gut. "Das sind schon betuchte Leute, aber trotzdem ganz einfach", lautet Doris Stiegemanns Sicht auf die neue Verwandtschaft.
Den Reservistenkrug durften Patricia, Federico und Brenda übrigens mit nach Argentinien nehmen. "Er gehört doch zu ihrem Teil der Familie", begründet Manfred Stiegemann das Geschenk. Noch immer schreibt er sich regelmäßig mit der neu gewonnenen Familie in Südamerika, erst kürzlich kamen Neujahrsgrüße von deren Strandhaus in Uruguay. Das einzige, was er und seine Frau Doris bereuen, ist, dass sie sich heute eine Reise nach Argentinien nicht mehr zutrauen. Vielleicht fliegen aber ihre Kinder einmal dorthin und schauen sich an, wo einst der Bruder ihres Urgroßvaters sein Glück gefunden hat.