Wahlen am Rande des Abgrunds

"Die gewonnene Dekade" nennt die jetzige Regierung um Cristina Fernández de Kirchner ihre zwei Amtsperioden und die ihres verstorbenen Mannes, Néstor Kirchner. Nicht alle Argentinier teilen diese Einschätzung, am wenigsten die Armen des Landes.

Die Armut ist in weiten Teilen des Landes verheerend. "Mehr als 25 Prozent der Bevölkerung lebt in Armut", sagt Daniel Arroyo, ehemaliger Minister für soziale Entwicklung der Provinz Buenos Aires. Die Anzahl der Menschen in den "villas miseria" (Elendsviertel) rund um Buenos Aires hat sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdreifacht, so Ann Mitchell, Professorin an der Katholischen Universität Argentiniens (UCA).

Unsicherheit und Korruption

Auch nicht viel gewonnen hat Argentinien in Sachen Sicherheit: Laut Umfragen ist die grassierende Unsicherheit für viele Menschen heute das Problem Nummer eins im Land. Argentinien hat laut der UNO die höchste Zahl an Raubüberfällen in Lateinamerika. Mord, Plünderungen und Lynchversuche sind ebenfalls nicht seltene Erscheinungen. Die Polizei ist überfordert. Viel Gewalt entsteht im Zusammenhang mit dem Drogenhandel.

Auch die Korruption scheint allgegenwärtig zu sein. Fast täglich kommen Fälle ans Licht. Vor einigen Monaten wurde sogar ein Prozess gegen Vizepräsident Amado Boudou eröffnet. Der Verdacht: Bereicherung im Zusammenhang mit der Verstaatlichung einer Geldscheindruckerei. Im jüngsten Korruptionswahrnehmungsbericht von Transparency International belegt Argentinien Platz 105 von 178, nach Algerien und gleichauf mit Kasachstan.

Kandidaten-Karussell

Gewählt werden am 25. Oktober ein neuer Präsident und jeweils die Hälfte der Abgeordneten und Senatoren. Die Kandidaten stehen noch nicht fest, aber es zeigen sich einige Tendenzen.

Die besten Aussichten, den Präsidenten zu stellen, hat die Partido Justicialista (Peronisten). Diese hat ja auch alles zu bieten: von ganz rechts bis links-populistisch. Der linke Flügel wird seit einigen Jahren von der Familie Kirchner abgedeckt. Zunächst mit Néstor Kirchner (Präsident von 2003 bis 2007) und danach von seiner Frau, Cristina Fernández de Kirchner, die ihrem Mann ins Amt folgte.

Im eher linken Lager des Peronismus etabliert sich immer mehr als möglicher Anwärter Daniel Scioli, 57, Gouverneur der Provinz Buenos Aires und Intimfeind von Fernández de Kirchner, "aber trotzdem, mangels Alternativen, eventueller Kandidat auch des Kirchnerismus", so Mariana Llanos, vom German Institute of Global and Area Studies (GIGA), Hamburg, zur DW. Auf der rechten Seite gewinnt immer mehr Profil Sergio Massa, 42, Bürgermeister der Stadt Tigre und Abgeordneter. Von Juli 2008 bis Juli 2009 war er Kabinettschef unter der jetzigen Präsidentin.

Bei den Nicht-Peronisten hat der liberal-konservative Unternehmer und Politiker Mauricio Macri, 55, Bürgermeister der Hauptstadt Buenos Aires, die besten Chancen für eine Kandidatur. Auch ein Konglomerat aus mitte-links und sozialdemokratischen Politikern will einen Kandidaten präsentieren, "man weiß aber noch nicht wen und ob die Opposition überhaupt sich geschlossen oder zersplittet präsentieren wird“, erklärt Llanos.

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It´s the economy!

Dreh- und Angelpunkt der ganzen Misere ist die Wirtschaft. Die letzten Regierungen haben es versäumt, das Land nach der Staatspleite 2001/2002 zu reformieren. Stattdessen haben sie, speziell in der Kirchner-Ära, es in Richtung Staatsdirigismus, Bevormundung und Kontrolle geführt. Nicht Investitionen haben Vorrang, sondern der Konsum. Finanziert wird dieser über die Abschöpfung der Gewinne bei den Agrarausfuhren (bis zu 35 Prozent Exportsteuer) und eine ungezügelte Vermehrung des Geldes über die Druckerpresse. Die unvermeidbare Inflation versucht man mit Preiskontrollen zu unterbinden. Und sie optisch zu reduzieren, indem man sie einfach leugnet. Der IWF hat Argentinien angemahnt, belastbare Zahlen zu liefern. Viel geholfen hat es nicht: Die Inflation erreichte in den ersten zehn Monaten dieses Jahres offiziell 21,4 Prozent, laut der Opposition im Parlament lag sie aber bereits bei 40 Prozent.

Um den Peso nicht abzuwerten, übt man eine strikte Devisenkontrolle und -zuteilung. Außerdem sind Importsperren und nicht tarifäre Einfuhrhindernisse an der Tagesordnung. Bei so viel Kontrolle und Gängelei bleibt ein Devisenschwarzmarkt nicht aus. Zurzeit beträgt die Kluft zwischen dem offiziellen und dem "parallelen" (schwarzen) Dollar um die 50 Prozent.

Unter dem offiziellen Dollarkurs leidet auch die Wettbewerbsfähigkeit des Landes, weil die Exporte "zu teuer" und die Importe "zu billig" sind. Auch die Reserven schrumpfen und betragen zurzeit lediglich ca. 30 Milliarden Dollar, was den Einfuhren von nur fünf Monaten entspricht, einer der schlechtesten Werte Lateinamerikas.

Und dann sind da noch die "Geierfonds"

Zu alle dem schwelt noch die Auseinandersetzung mit den "Geiern": Hedgefonds, die Papiere nach der Staatspleite 2002 ohne Schuldenschnitt zu günstigen Kursen aufkauften und jetzt auf volle Auszahlung von 1,33 Milliarden Dollar samt Zinsen klagen. Eine erhoffte Einigung Anfang 2015 wird jetzt von der Regierung aber in Frage gestellt.

"Das Dilemma der argentinischen Ökonomie besteht darin", so Klaus Bodemer vom GIGA in Hamburg zur DW, "ein Entwicklungsmodell zu definieren, das hohe und dauerhafte Wachstumsraten, eine stärkere Integration in den Welthandel durch eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und die Privilegierung arbeitsplatzschaffender Aktivitäten als politische Prioritäten vorsieht." Trotz gebetsmühlenartiger Beschwörung des "argentinischen Modells" von Wachstum mit sozialer Inklusion stehe ein derartiges Modell jedoch nach wie vor aus.

In der heutigen argentinischen Realität geht es aber nicht mehr um Modelle, sondern um viel Schlichteres. Miguel A. Kiguel, Chef der renommierten Wirtschaftsberatung Ecoviews sagte vor kurzem: "Das Wichtigste ist, heil bis zu den Wahlen 2015 zu kommen und das wird geschehen. Immer am Rande des Abgrunds, aber ohne herunterzufallen." Das bleibt nur zu hoffen.

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