Vom Leben auf der Krisen-Achterbahn

Pleite, welche Pleite? Am frühen Donnerstagabend, etwa einen Tag, nachdem Standard Poor's einen teilweisen Zahlungsausfall für argentinische Staatsanleihen festgestellt hatte, konnten alle Argentinier via Live-TV eine glänzend gelaunte Präsidentin erleben, die in ihrem Palast den Provinzfürsten Finanzmittel aus dem Bundesbudget zusagte. Geld zum Verteilen ist offenbar genügend da, das Land ist doch nicht bankrott. „Die sollen sich gefälligst einen anderen Namen einfallen lassen“, rief Cristina Kirchner. „Default steht für die, die nicht bezahlen.“

Also alles nur ein Missverständnis? Während die Zeitungen, vor allem jene aus dem Regierungslager, von bevorstehenden Bankendeals berichten, die das Land bald aus den Klauen der Geier retten werden, bleiben die Bürger routiniert skeptisch. „Das ist doch das gleiche wie immer“, sagt Cristian, Gemüsehändler aus dem Hauptstadtviertel Villa Urquiza. „Die Regierung lügt mit den Inflationszahlen, die fälschen die Armutsziffer und jetzt leugnen sie auch noch den Staatsbankrott, was soll man dazu noch sagen?“ Cristian ärgert sich vor allem, dass Boca Juniors nicht spielt am Sonntag, weil Julio Grondona starb, der Fußball-Pate Argentiniens. Sein Tod trat am Mittwochmorgen ein, weshalb fast alle TV-Stationen Fußball-Bilder sendeten, während das Land zum achten Mal pleiteging. Der Staatsbankrott brachte offenbar keine Quote.

Das ist Argentinien, seit mehr als 50 Jahren: Geldentwertung, Hyperinflation und Abwertungen. Zweimal wandelte die Regierung alle privaten Bankguthaben über Nacht in Staatsanleihen um, deren Wert von der Inflation pulverisiert wurde. Und 1991 band das Land seinen Peso 1:1 an den Dollar. Wohl die irrste aller Ideen, denn fast alles, was Argentinien produzierte, ließ sich nicht mehr verkaufen. Während die Industrie zugrunde ging, urlaubten die Argentinier im Ausland und konsumierten italienische Nudeln und französischen Champagner, bis zum letzten Tango. Am Ende dieser Dollar-Dummheit standen diverse Refinanzierungsrunden, Staatsanleihen zu 14 Prozent und gloriose Gewinne für Banken, den IWF und auch manchen Politiker in Argentinien und den USA, bis alles Geld verbrannt war. 95 Milliarden US-Dollar umfasste der Zahlungsausfall vom Ende 2001, dessen Verkündigung zu schlechter Letzt auch noch im Kongress bejubelt wurde. Unter den Claqueuren der Apokalypse war die Abgeordnete Cristina Fernández de Kirchner.

Argentiniens Achterbahn. „Das Leben hier ist wie eine Achterbahn, nur dass die Abfahrten immer länger sind als die Aufstiege“, sagt Héctor Laffaire, der darum bat, dass sein echter Name nicht in diesem Text stehen möge. Héctor ist Unternehmer, voriges Jahr hat er die Firmenleitung jüngeren Kollegen übergeben, „die den Wahnsinn besser durchstehen“. Héctors Firma produziert seit den 1970er-Jahren elektrische Schaltsysteme für Telefonanlagen. In den 1990ern ein Bombengeschäft, weil europäische Konzerne investierten. Nach dem Gau 2001 war die Firma fast pleite, da die Konten monatelang nicht zugänglich waren, außerdem hat der Staat ja flugs die Dollarreserven in Pesos verwandelt, die nur ein Viertel wert waren. Weil Argentinien am Boden lag, suchte Héctor nach Abnehmern im Ausland und konnte Kunden gewinnen, in Frankreich, Arabien und Fernost. Was sich auf deutsch liest wie eine gewöhnliche Mittelstandserfolgsgeschichte, ist in Argentinien ein Abenteuerbericht, denn der Zahlungsverkehr eines Landes, das mit aller Welt offene Rechnungen hat, ist ein babylonischer Irrgarten.

Laffaires Firma globalisierte ohne langfristige Unterstützung irgendeiner Bank. Der 64-Jährige erinnert sich noch an jenen Nachmittag im Jahr 2005, als er dem Geschäftsführer der Banco Supervielle gegenübersaß, einem gut eingeführten Geldhaus, und für seine Frankreich-Expansion um 300.000 Dollar Kredit bat, Rückzahlung binnen fünf Jahren. Der Banker lächelte und fragte: „Fünf Jahre? Unsere längste Kreditlinie ist ein halbes Jahr.“

Zu den Finanzierungsproblemen gesellt sich die schlechte Zahlungsmoral vieler Geschäftspartner. Eine träge Justiz erschwert die Sache zusätzlich. Der Chef von 100 Mitarbeitern musste ständig Manöver machen: Abrechnungen verzögern, Lieferanten vertrösten, auch mal die Gehälter nur in Raten auszahlen. „Allein, damit die Finanzen halbwegs stimmen, gehen so viel Zeit und Kreativität verloren.“

Die Banken haben kein Geld, weil der Staat kein Geld hat. Und das ist passiert, weil diese Regierung ihre Rechnungen nicht begleichen wollte. Seit 2001 konnte Argentinien auf den internationalen Kreditmärkten keine bezahlbaren Kredite aufnehmen, der einzige Gönner hieß Hugo Chávez, doch der erwies sich als teurer Freund. Für die letzte Dollar-Milliarde kassierte er 16 Prozent Zinsen.

Teure Konsumfiesta. Bis 2007 wuchs Argentinien jährlich mit acht bis neun Prozent, das Land kam wieder auf die Beine und konsumierte vor allem Güter der wiedererweckten nationalen Industrie. Doch statt Infrastruktur finanzierte der Präsident Néstor Kirchner eine Konsumfiesta. Die wogte, solange die Soja-Preise am Weltmarkt stiegen und genug eigene Energie da war. Doch seit 2010 muss Argentinien Öl und Gas importieren, 2013 flossen nur für Energie zwölf Milliarden Dollar ab.

Weil die Regierung nicht wagte, die massiven Subventionen für Strom, Gas, Wasser und Verkehr zu kürzen, musste der Staat wieder Schulden machen, allerdings nicht im Ausland, sondern daheim. 2009 verstaatlichten die Kirchners die private Rentenkasse und griffen seit 2010 mehrfach in die Kassen der Zentralbank. Die Notenpresse rotierte, zwischen 2011 und 2013 stieg der Geldumlauf um 40 Prozent, was natürlich die Inflation befeuerte. Derzeit liegt deren Wert nach Angaben privater Institute und den Statistikämtern diverser Provinzen bei etwa 35 Prozent. Um die knappen Dollars im Lande zu halten, begannen Importbeschränkungen und Devisenkontrollen, die es Bürgern und Unternehmen erschwerten, Geld zu kaufen, das nicht jedes Jahr 20 bis 35 Prozent seines Wertes verliert.

Argentinien ist nicht zufällig das Land mit dem größten Bestand an Dollars in bar außerhalb der USA. Durchschnittlich besitzt jeder der 40,5 Millionen Bürger etwa 1500 Dollar in Scheinen. Jedes Jahr bekommt die US-Notenbank aus Argentinien Geldnoten, die fleckig, verfault und von Ratten angebissen sind, denn die Argentinier vergraben ihre Habe im Garten oder mauern sie ein. Seit drei Jahren sind alle Bankschließfächer des Landes vermietet. Keiner der etwa 2, 5 Millionen Bürger, die Geld auf die Seite legen konnten, hat die fast zwei Jahre währende Kontensperre nach dem letzten Staatsbankrott vergessen.

Malheur in Manhatten. Dieses Jahr, das erstmals in der Ära Kirchner in der Rezession begann, erkannte die Präsidentin, dass sie ohne frisches Kapital nicht mehr auskommt. Darum schickte sie Wirtschaftsminister Axel Kicillof los, um alte Schulden – beim Pariser Club, dem Ölkonzern Respsol und diversen anderen Gläubigern zu bezahlen – mit Bonds, die ihre Nachfolger werden finanzieren müssen. Argentinien war auf einem guten Weg ins Wahljahr 2015, bis das Malheur in Manhattan passierte.

Und nun? Am Freitagmorgen genehmigte die Steuerbehörde keine Dollarkäufe von Privatpersonen. Auf dem Schwarzmarkt war der Dollar 13 Pesos wert, während der offizielle, aber nicht erhältliche, Kurs bei 8,20 liegt. Firmen wie jene von Héctor Laffaire, die auf importierte Bestand- oder Ersatzteile angewiesen sind, werden beim Import noch größere Schwierigkeiten bekommen als jene, die den Unternehmer in den Ruhestand trieben. Die wiederverstaatlichte Ölfirma YPF wird kein Geld von der Wall Street bekommen, um ihre erheblichen patagonischen Vorkommen anzubohren. die Notenpresse wird rotieren, für Zahlungen wie jene an die Provinzgouverneure. Und die Währungsreserven – offiziell 28 Milliarden, davon ist aber höchstens die Hälfte flüssig – werden abschmelzen.

„Cristina wird die Republik Ende 2015 mit leeren Kassen übergeben“, hatte der Ex-Wirtschaftsminister Roberto Lavagna schon vor drei Jahren prophezeit, als die Präsidentin nach einem opulenten Wahlkampf mit 54 Prozent der Stimmen wiedergewählt wurde. Heute scheint es, als habe er Recht behalten. Der Unternehmer Héctor Laffaire glaubt: „Das wird nicht gut enden.“

Dezember 2001 Argentinien erklärt sich für zahlungsunfähig. Es ist die bisher größte Staatspleite der jüngeren Geschichte. Juni 2010 Schuldenschnitt: 92,4 Prozent der Schulden sind mit großen Verlusten für die Anleger umstrukturiert.
November 2012 Ein US-Richter verurteilt das Land, offene Schulden von 1,3 Mrd. Dollar an zwei Hedgefonds zu zahlen.
Mai 2014 Argentinien will staatlichen Gläubigern 7,2 Mrd. Dollar zahlen, darf aber erst, wenn die Fonds ihr Geld haben.
Juli 2014 Argentinien kann sich nicht mit den Hedgefonds einigen und ist „technisch“ wieder in der Pleite.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2014)

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