Jetzt sterben sie wieder. Damit das Spektakel stattfinden kann, müssen eben so ein paar Tote in Kauf genommen werden. Denn ums Kaufen und Verkaufen geht es ja schließlich, auch wenn die Veranstaltung Fußball-Weltmeisterschaft heißt. Aber wenn drunten im fernen Katar die Körper auf das Pflaster schlagen, wenn drüben im fernen Brasilien die Kugeln in die Köpfe schlagen – wen kümmerts, solang der Rubel und der Ball rollen? Gewiss, ein paar Worte des Bedauerns werden die Offiziellen noch finden, Blatter vielleicht nicht mal, aber Platini, Zwanziger, Niersbach. Und das ist schon mehr als früher, als man sich mit Diktatoren und Menschenschindern gemein machte, 1978 etwa, mit den Verbrecherjunta um Jorge Videla in Argentinien. Da war von der deutschen Regierung nichts zu hören an Kritik, obwohl Kanzler Schmidt und Minister Genscher von den Gräueln wussten, vom Schicksal der „Desparecidos“, der Verschwundenen.
Und eine von ihnen war eine Deutsche, Elisabeth Käsemann, Tochter eines international renommierten Theologen. Sie war nach ihrem Studium in Berlin nach Lateinamerika gegangen, um dort Sozialarbeit zu leisten, engagierte sich in den Armenvierteln – und wurde von Schergen der Junta verschleppt, gefoltert und ermordet. Und die deutsche Regierung? Tat nichts. Während die Briten in Buenos Aires intervenierten, um Käsemanns Freundin Diana Austin und andere Landsleute zu retten, tat die deutsche Regierung – nichts.
Der Dokumentarfilmer Eric Friedler, jüngst mit dem Grimmepreis ausgezeichnet für sein Porträt des israelischen Friedensaktivisten Abi Nathan, hat sich zusammen mit seiner Autorin Silke Schütze erneut um die Erinnerung an ein vergessenes Schicksal verdient gemacht: Er erzählt in „Das Mädchen“ vom Leben und Sterben einer jungen Frau, die nur mit praktischer Arbeit bei den Armen die Welt verbessern wollte, in den Augen der Herrschenden beiderseits des Atlantiks damit aber offenbar zur Terroristin wurde. Denn dieser – blödsinnige – Verdacht war ein Grund, warum die von der Terrorismus-Hysterie befallenen deutschen Regierungsvertreter Elisabeth Käsemanns Schicksal ignorierten und alles unterließen, um sie vor dem Tod zu bewahren.
"Störfall in den deutsch-argentinischen Beziehungen"
Ein anderes Motiv war Geldgier. Siemens führte gerade vor der Weltmeisterschaft das Farbfernsehen in Argentinien ein, die Rüstungsindustrie witterte das große Geschäft, nachdem die USA gegen Argentinien ein Embargo verhängt hatten, und die Nationalelf war schon zu einem Gastspiel im Juni 1977 geladen. Und von den Sportfunktionären, allen voran DFB-Präsident Hermann Neuberger (einen „Schönwetter-Schwindler“ nennt ihn Hellmuth Karasek im Film), waren eher dreiste Lügen zu hören als Fragen nach dem Verbleib einer jungen Frau.
Elisabeth Käsemann hätte wie ihre Freundin gerettet werden können. Wenn es jemand von der Regierung oder vom DFB versucht hätte. Aber sie war „ein Störfall in den deutsch-argentinischen Beziehungen“ sagt der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Klaus Thüsing, der sich empörte über die Heuchelei seiner Kollegen und Parteigenossen.
Klaus von Dohnanyi war im Auswärtigen Amt unter Genscher zuständig, und er kann heute nicht anders, als kleinlaut zu fragen, "warum man nicht mehr gemacht hat“. Ähnlich Dohnanyis Kollegin im Amt, Hildegard Hamm-Brücher, die später als moralische Instanz der Republik galt. Hier muss sie einräumen, im Bundestag gelogen zu haben, weil sie „abgelesen hat, was mir aufgeschrieben wurde“. Das nämlich: „Die Bundesregierung hat in Argentinien wie überall in der Welt keine Gelegenheit vorübergehen lassen, um unmissverständlich für die Beachtung der Menschenrechte einzutreten.“ Das ist Politik, und das ist Zynismus. Schließlich verlor Hamm-Brüchers Chef , als er auf Elisabeth Käsemann angesprochen wurde, nur das Wort „Ach, das Mädchen...“. Kein Wunder, dass Genscher nicht zu einem Gespräch mit Eric Friedler bereit war.
Andere waren auskunftswilliger. Friedler gelingt es, in einer ausgeklügelten Dramaturgie, die das Versagen der Politik nach und nach besser erkennen lässt, mit zahlreichen Gesprächspartnern ein klares Bild von dem Skandal zu zeichnen. Ein Sportler wie Paul Breitner etwa, meinungsstark wie immer, fragt sich, „wenn man da nicht empört sein soll?“ Karl-Heinz Rummenigge findet, Bonn und der DFB hätten sich verhalten wie die drei Affen: nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. DFB-Funktionär Horst Schmidt verfällt lieber ins „man“, wenn er über die Rolle des Verbands spricht, räumt aber ein, die Südamerikaner hätten den DFB bei der WM-Kandidatur 1974 unterstützt.“
Ausweise für gefährdete Regimegegner gebastelt
Schließlich tritt auch ein direkt Beteiligter vor die Kamera – in Handschellen: Roberto Zeolitti war einer der Wärter der Gefolterten im Konzentrationslager „El Vesubio“, sitzt nun selbst in Haft und beschreibt das Leiden der jungen Deutschen. Er zeigt mehr Mitgefühl und Verständnis für das Opfer als der damalige deutsche Botschafter Jörg Kastl: Käsemann sei selbst schuld, sie habe doch gewusst dass sie „auf diesem sehr gefährlichen Feld Risiken einging“ und als sei das noch nicht genug, fügt er später hinzu: „Sie war fanatisch, ich glaube sie war bereit, als Terroristin von links das Regime anzugreifen.“ Womit er dann auch noch rechtfertigt, dass die Ermordete irgendwo verscharrt wurde.
Ob solche Behauptungen Kastls fortgeschrittener Vergreisung zuzurechnen sind oder nicht (er ist im Laufe dieses Jahres gestorben): Der braven schwäbischen Sozialdemokratin Herta Däubler-Gmelin fällt dazu nur noch ein: „unglaublicher Zynismus“. Denn Käsemann war erklärtermaßen gegen gewalttätige Aktionen, ihr illegales Tun bestand gerade mal darin, Ausweise für gefährdete Regimegegner zu basteln. Aber der Botschafter, der Beziehungen zur Junta unterhielt, war ideologisch so verblendet, dass er nicht einmal half, als er helfen konnte. Denn als dann doch eine Anfrage aus Deutschland nach Elisabeth Käsemann kam, weil man sie freikaufen wollte, log Kastl: Sie sei nicht bekannt – obwohl sie kein halbes Jahr zuvor ihren Pass hatte verlängern lassen. Und als Elisabeth Käsemann in Deutschland beigesetzt wurde, filmte die Polizei die Beerdigung...
So wurde eine junge Frau, weil sie sich für andere Menschen einsetzte, Opfer von Borniertheit, Terrorismus-Hysterie und praktischer Politik. „Heute wäre das sicher ganz anders“, glaubt Klaus von Dohnanyi. Ein Irrtum, wie Katar und Brasilien zeigen.
„Das Mädchen“, ARD, 5. Juni, 22.45 Uhr.