Frage: Wann schafft es ein argentinischer Film ins Hauptprogramm unserer Kinos? Antwort: Sehr, sehr selten. Doch jetzt ist der Moment gekommen. Der Kompilationsfilm «Relatos Salvajes», (deutscher Verleihtitel: «Jeder dreht mal durch!») hat in den Augen der Filmindustrie offenbar das Potenzial, gross einzuschlagen. In Argentinien hat der Streifen Millionen in die Kinos gelockt und wurde zum erfolgreichsten einheimischen Film aller Zeiten. Und auch die Kritiken, die bereits erschienen sind, lassen ein humoristisches Meisterwerk erwarten. «Verdammt lustig», «Ein Feuerwerk des schwarzen Humors» oder «Cannes brüllt vor Lachen», heisst es da etwa. Gut, wurde in Biel vergangene Woche vor einem zahlreich erschienen Publikum eine Vorpremiere des Films gezeigt. Sie relativiert diese werbewirksamen Sätze: Die Stimmung im Saal war alles andere als ausgelassen.
Nein, zum Brüllen ist dieser Film nicht. Schlecht ist er aber auch nicht. Im Gegenteil. Seine Kritik an der argentinischen Gesellschaft, die von Korruption, Egoismus, Machismo und anderen vorwiegend männlichen Fehltritten geprägt scheint, ist ziemlich bissig, entlarvend und zuweilen schmerzhaft. Gerne möchte man lachen, doch meistens bleibt es im Hals stecken. «Relatos salvajes» besteht aus sechs Kurzfilmen, die alle nach einem ähnlichen Muster aufgebaut sind, aber völlig unterschiedliche Geschichten erzählen. Einen roten Faden, der die Geschichten zusammenhält, gibt es nicht. Was aber allen Geschichten gemeinsam ist: Immer rastet jemand aus, der zuvor ungerecht behandelt worden ist. Jede Erzählung ist eine kleine (oder doch eher eine grosse?) Rachegeschichte. Da ist zum Beispiel der Autofahrer in seiner Oberklasse-Limousine, der einen langsam fahrenden Arbeiter nicht überholen kann, weil dieser ihn ausbremst. Wegen einer Panne treffen die Autofahrer später wieder aufeinander und der Streit eskaliert in einer Gewaltorgie, in der sich die beiden gegenseitig umbringen wollen. Lustig? Nein. Aber nachvollziehbar irgendwie schon. Wer hat nicht irgendeinmal im Leben einen Trottel auf der Strasse angetroffen, den er am liebsten…? Eben. «Relatos salvajes» lebt von solchen Situationen und zeigt, was passiert, wenn Menschen die Kontrolle verlieren und ungehemmt zuschlagen. Die ersten drei Episoden sind ziemlich drastisch und von primitiven Instinkten geprägt. Dann aber erzählt Regisseur Damián Szifron drei differenzierte Geschichten: Da wird zum Beispiel das Auto eines unbescholtenen Bürgers wegen Falschparkierens abgeschleppt, obwohl nirgends eine Parklinie erkennbar war. Der gute Mann erlebt auf den Ämtern die Hölle, weil er die Busse nicht bezahlen will. Absolut nachvollziehbar, dass er die Behörden in die Luft sprengen möchte. Oder da ist die Braut, die an ihrer Hochzeit entdeckt, dass ihr Mann eine Affäre mit einer Kollegin hatte. Wer versteht nicht, dass sie ausrastet? Oder noch schlimmer die Geschichte, in der ein schwerreicher Magnat versucht, seinen Sohn aus dem Schussfeld zu nehmen, weil dieser eine schwangere Frau überfahren hat. Nirgends wird korruptes Verhalten so krass entlarvt wie in dieser Sequenz: Für ein schönes Schmiergeld soll der Gärtner der Familie anstelle des Sohnes ins Gefängnis. Doch auch dieses Vorhaben scheitert gewaltig.
Die Qualität der Kurzgeschichten ist sehr unterschiedlich: manchmal sind sie roh und primitiv, dann wieder gescheit und entlarvend. Manchmal sind sie klar auf argentinische Verhältnisse zugeschnitten, dann wieder von universeller Gültigkeit. Letztlich zeigt der Film, dass Ausrasten nicht wirklich eine Option ist. Ausser vielleicht im Kino, wo einfach alles möglich ist. So streift «Relatos salvajes» die Grenzen zwischen Schmerz und Komik: eigenwillig, amüsant, aber auch ungehobelt und krass. Ohne Anstand eben.
Info: In den Kinos Lido 1/2, Biel.
Mario Schnell