Politik: Wenn die Saat Böses bringt

“ Heute glaubt sie, eine Erklärung zu haben.

Lucila Algraín läuft durch die Straßen von Ibarlucea. Die 35-Jährige ist auf dem Weg zu einer Bürgerversammlung im alten Bahnhof. Ibarlucea liegt 300 Kilometer nordwestlich von Buenos Aires inmitten riesiger Sojafelder. Nächstgelegene Stadt ist Rosario, wo Algraín an der Universität Pädagogik lehrt. Bekannt ist Rosario für seinen Binnenhafen, den größten Umschlagplatz für Soja in Argentinien.

Im alten Bahnhof von Ibarlucea haben sich 25 Dorfbewohner versammelt, als Lucila Algraín eintrifft. Sie wollen über den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln auf den Feldern rund um ihren Ort sprechen. Jeder hier hat eine Geschichte von schweren Erkrankungen in der Familie zu erzählen. Und alle sind überzeugt, dass diese von einem Herbizid mit dem Namen Roundup ausgelöst wurden. Lucila Algraín berichtet, dass die Ärzte in Rosario zu den Missbildungen ihres Sohnes geschwiegen hätten. Aber ihr Kinderarzt habe bestätigt, dass die nicht genetisch bedingt sein könnten. „Während meiner Schwangerschaft wurden die Sojafelder neben unserem Haus oft mit Herbiziden besprüht“, sagt Lucila Algraín.

Einer der Initiatoren des Treffens ist Juan José Peralta. Der 35-jährige Lehrer und Imker gehört zur sogenannten Wanderuniversität. Sie besteht aus einem Aktivistenteam, das in einem alten Bus kreuz und quer durch die Provinz Santa Fe fährt und Soja-Seminare abhält. In Ibarlucea wirbt Peralta für ein Gesetz, das das Versprühen von Pflanzenschutzmitteln aus Flugzeugen verbietet. Traktoren, die die Gifte ausbringen, sollen in der Provinz Santa Fe nicht näher als 800 Meter an Ortschaften heranfahren dürfen. Peralta sagt: „Die Krankheiten haben nicht nur in den Dörfern zugenommen, sondern auch an den Stadträndern.“

Jedes Jahr verteilen Flugzeuge und Traktoren mehr als 300 Millionen Liter Herbizide, Pestizide und Fungizide auf Argentiniens Feldern. Gleichzeitig ist im gesamten Land eine Zunahme von Fehlgeburten, Missbildungen und Krebs zu beobachten. In Lucila Algraíns Nachbarschaft gibt es ein Kind, das mit einem Spaltwirbel geboren wurde. Es gibt zwei Diabetiker, einen Mann, der kürzlich an Krebs starb, und es gab zwei Fehlgeburten.

Lucila Algraín brauchte einige Zeit, um all diese losen Enden miteinander zu verbinden.

Neun Jahre vor ihrem Umzug aufs Land wurde in Argentinien der Anbau von genetisch manipuliertem Soja erlaubt. Die Bohne galt als der neue Shootingstar unter den Agrarprodukten, weil sie nicht nur als Futtermittel in der Masttierhaltung verwendet werden kann, sondern auch als Biokraftstoff. Politiker und Lobbyisten feierten Soja als Lösung für die weltweiten Ernährungs- und Energieprobleme. Die argentinische Regierung genehmigte damals den Anbau von Gensoja in nur drei Monaten. An der Macht war der neoliberale Präsident Carlos Menem, der sich in den Kopf gesetzt hatte, ganz Argentinien zu privatisieren. Es schien niemanden zu stören, dass beim Genehmigungsverfahren 108 von 136 Gutachten direkt von dem US-Agrarkonzern Monsanto stammten.

Das Unternehmen mit Sitz in St. Louis, Missouri, hatte einen Sojasamen mit dem Namen Roundup Ready gezüchtet. Dieser ist so manipuliert, dass er der Verwendung des Breitbandherbizids Glyphosat widersteht. Dieses wird ebenfalls von Monsanto hergestellt und unter dem Namen Roundup verkauft. Das Unternehmen hat einen Ruf, wenn es um potente Pflanzenkiller geht. Im Vietnamkrieg hatte es die US-Luftwaffe mit Agent Orange versorgt. Das Entlaubungsmittel kann heute noch in den Körpern von Vietnamesen nachgewiesen werden. Nun steht auch Glyphosat im Verdacht, schwere Schäden des Erbguts bei Menschen und Tieren zu verursachen.

In Argentinien wachsen die Gensojabohnen heute auf 19 Millionen Hektar Land. Sie haben Getreide, Baumwolle, Gemüse und Früchte verdrängt. Auch die Flächen für die Rinderzucht sind so stark geschrumpft, dass die einstige Steaknation neuerdings Fleisch aus Uruguay importiert. Die verbliebenen argentinischen Rinder stehen nicht mehr auf Weiden, sondern auf fußballfeldgroßen Viehhöfen. Dafür prahlen Argentiniens Politiker damit, dass ihr Land heute nach den USA und Brasilien der drittgrößte Sojaproduzent der Welt ist. Beim Anbau von Gensoja steht es sogar auf dem zweiten Platz. 99 Prozent der Bohnen sind manipuliert.

Das bedeutet auch, dass so gut wie alle argentinischen Sojabauern Roundup und damit Glyphosat verwenden müssen. Denn ohne das Mittel ergibt der Anbau von Gensoja keinen Sinn. Allerdings hat die langjährige Nutzung des Herbizids auch dazu geführt, dass viele Schädlinge resistent geworden sind – was die Landwirte zwingt, immer mehr Glyphosat zu versprühen.

Derzeit treibt die Regierung in Buenos Aires die Sojafront in immer neue Regionen voran, darunter artenreiche Wälder. Sie nennt das „landwirtschaftlichen Entwicklungsplan“. Aber der führt zu unkontrollierbaren Verhältnissen. Landtitel sind schnell gefälscht, Tatsachen schnell geschaffen. Außerdem sind die Regierungen abgelegener Provinzen oft identisch oder verbandelt mit der Soja-Industrie. Mit der Expansionspolitik versichert sich die Regierung der Zustimmung der mächtigen Sojabarone – und ihrer Einnahmen: auf Sojaprodukte wird eine Exportsteuer von 35 Prozent erhoben. Das Geschäft erreichte 2011 ein Volumen von 20 Milliarden Euro. Die Profiteure sind große Investoren sowie multinationale Konzerne, die Saatgut, Spritzmittel und Dünger verkaufen, darunter: Monsanto, Pioneer, BASF, Bayer und Syngenta.

Verantwortlich für diese Entwicklung ist der Lebensstil der westlichen Gesellschaften und Chinas. Die Zunahme des Fleischkonsums und des Biospritverbrauchs haben den Preis für Soja in die Höhe getrieben. Und so produzieren Flächenländer wie Brasilien und Argentinien so viel Soja, wie sie können.

Ein Viertel der argentinischen Bohnen wird roh exportiert, drei Viertel werden vor Ort zu Sojaöl und Sojaschrot verarbeitet. Ersteres verschifft man fast ausschließlich in die USA, wo es zur Produktion von Kraftstoffen verwendet wird. Der Sojaschrot wandert hingegen in die Mägen von Schweinen, Milchkühen und Rindern in Europa und China. Die EU importiert jedes Jahr 36 Millionen Tonnen Sojaschrot. Etwa fünf Millionen Tonnen werden in Deutschland verfüttert.

Francisco Aphalo leitet das Zentrum für Toxikologie TAS in Rosario. Finanziert wird es vom Unternehmerverband CASAFE, in dem sich die Agrarkonzerne zusammengeschlossen haben. Das TAS führt Routineuntersuchungen bei Arbeitern im Gensoja-Anbau durch. Man schaue, ob ihre Körper erhöhte Konzentrationen schädlicher Substanzen aufweisen, erklärt Aphalo. Es gebe Arbeiter, die seit zehn Jahren mit Glyphosat arbeiteten, und man habe nie krankhafte Symptome bei ihnen feststellen können. Es existiere keine einzige Studie, die das Herbizid als Ursache für genetische Missbildungen identifiziere. Er hält entsprechende Berichte für Panikmache und sagt: „Ich glaube an die Studien der Internationalen Agentur für Krebsforschung und der US-Umweltschutzagentur EPA.“ Und die bewerten Glyphosat als „wahrscheinlich nicht krebserregend“.

„Aber natürlich“, gibt Aphalo zu, „wenn Sie es einem Embryo injizieren, werden Sie andere Ergebnisse kriegen.“

Genau das hat Doktor Andrés Carrasco getan. Der Direktor des Laboratoriums für molekulare Embryonalforschung an der Universität von Buenos Aires injizierte Glyphosat in Amphibienembryos. Daraufhin beobachtete er eine wesentliche Veränderung ihres Erbguts. Die Veröffentlichung der Daten brachte Carrasco eine Diffamierungskampagne ein. Die Agrarlobby, Politiker und verschiedene Medien bezweifelten Carrascos Forschungsergebnisse und seine Eignung als Wissenschaftler. Per Telefon erhielt er Morddrohungen.

Roberto Ríos, 34, hat seine eigenen Erfahrungen mit Glyphosat gemacht. Der ehemalige Sprüher wohnt in Ceres, einem Dorf rund 400 Kilometer nördlich von Rosario. Ríos hat leuchtend schwarze Augen und wirkt auf den ersten Blick wie ein zupackender Mensch. Aber er schleppt sich voran, als ob sein ganzer Körper schmerze. Ríos raucht nicht und trinkt nicht, aber es ist nicht zu übersehen, dass er Übergewicht hat. Er sagt, das liege an einer hormonellen Störung.

Zehn Jahre lang hat Ríos mit Roundup hantiert. Er arbeitete in einer kleinen Agrarfirma. Dort war er für das Besprühen der Felder zuständig. Doch sein Traktor verfügte nicht einmal über eine Kabine, die ihn vor den Tropfen der Agrarchemikalien schützte. Nach sieben Jahren musste er erstmals aussetzen.

„Es fing mit Bauchschmerzen an“, berichtet Ríos, „stechend, als hätte ich eine Bombe im Magen. Ich konnte nicht mehr atmen, mein Bauch war geschwollen. So etwas hatte ich noch nie erlebt.“ Im Krankenhaus schlussfolgerte ein Arzt, dass Ríos mit giftigen Stoffen arbeite. Das TAS aber hat nie die geringste Konzentration von Glyphosat in seinem Blut festgestellt. Zwei Jahre später musste Roberto Ríos seinen Job aufgeben. Der Vater von vier Kindern wurde an Speiseröhre, Leber und Nieren operiert. Die Kosten trug er selbst. Seine Firma weigerte sich anzuerkennen, dass der Job ihn krank gemacht haben könnte.

Roberto Ríos traut sich, Gensoja zu kritisieren. Andere Arbeiter, auch sie arm und krank, schweigen lieber. Denn wer etwas gegen Soja sagt, legt sich mit den Mächtigen an. Ríos wurde bedrängt, nicht mit der Presse zu reden. Als er es trotzdem tat, wurde er anonym bedroht. Den Mitgliedern der Betroffenenvereinigung „Pueblo Fumigado“, „besprühtes Volk“ schlug man die Fenster ein und zündete ihre Autos an.

Wie sehr die Sojaproduktion die gesamte Region rund um Ceres beherrscht, ist augenscheinlich. Die Felder beginnen an den Dorfrändern und ziehen sich bis zum Horizont. Gleich neben den Wohnhäusern stehen die Lager für die Agrarchemikalien. Die höchsten und imposantesten Gebäude sind die Sojasilos. Vor ihnen stehen Schlangen von randvoll beladenen Lastern. Die Herren der Sojafelder sind an ihren neuen Geländewagen und großspurigem Auftreten zu erkennen. Wer ins Sojageschäft einsteigt, wird wegen der großen Nachfrage schnell reich.

Professor Damián Verzeñassi von der Universität Rosario hat täglich mit Fällen wie dem von Roberto Ríos zu tun. Seit der Einführung von Gensoja hat er eine Zunahme von Lymphdrüsenkrebs, Leukämie und genetischen Missbildungen in der Region festgestellt. Kinder werden ohne Gehirn geboren, ohne Arme und Beine, sie haben Spaltwirbel und Wasserköpfe. „Diese Dinge kannten wir früher nur aus pathologischen Lehrbüchern“, sagt Verzeñassi. „Das gab es hier nicht.“

Um die Auswirkungen des Gensoja-Anbaus aufzuklären, setzte die argentinische Präsidentin Cristina Kirchner 2009 eine Kommission von Wissenschaftlern und Fachleuten zusammen. Doch bis heute hat die keine einzige Studie präsentiert.

In Deutschland wird zwar kein Gensoja angebaut, jedoch auch über den Einsatz von Glyphosat gestritten. Laut Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit brachten hiesige Bauern zuletzt mehr als 5000 Tonnen des Herbizids auf ihren Feldern aus. Die Stiftung Ökotest schlug Alarm, nachdem sie Glyphosat in den Linsen von acht Herstellern entdeckt hatte. In Deutschland gilt die Chemikalie als unbedenklich. Ihre EU-weite Zulassung wurde 2010 bis 2015 verlängert. In Argentinien hingegen geht die Industrie nun auf die Vorwürfe ein.

Alberto Etiennot ist ein freundlicher älterer Herr mit weißem Haar. Der emeritierte Professor für Agrarwissenschaft vertritt den Unternehmerverband CASAFE und bewohnt ein Luxusappartement in Buenos Aires. Er blättert in einem Buch, das Dutzende Zeugnisse von Betroffenen enthält. Dazu fällt Etiennot die immer selbe Antwort ein: „Hier fehlt die notwendige wissenschaftliche Rückendeckung.“ Dennoch gibt er zu, dass der falsche Gebrauch von Agrarchemie gesundheitliche Probleme verursachen könnte. Das ist neu. Bis vor wenigen Jahren behaupteten die Gensoja-Advokaten noch, dass man ein Glas Glyphosat ohne Risiko trinken könne. Jetzt sagt Etiennot: „Viele Arbeiter werden nicht richtig im Gebrauch mit den Spritzmitteln geschult.“ So könne es passieren, dass ein Flugzeug ein Ferienlager für Kinder überfliege. Kritiker halten die neuen Aussagen für ein durchschaubares Manöver: Man gebe sich lernfähig, um die Expansionspläne nicht zu gefährden.

Tatsächlich gehen viele Großbauern schlampig mit den Chemikalien um. Sie missachten empfohlene Mischverhältnisse und Grenzwerte. Das Gift wird dann nicht mehr vom Boden absorbiert, es gelangt ins Grundwasser, in Flüsse oder Seen. Mehr als einmal kam es in Argentinien in den vergangenen Jahren zum mysteriösen Massensterben von Fischen und Vögeln.

Kürzlich beschäftigte das Problem auch die Justiz. Am 21. August endete in Córdoba ein Gerichtsverfahren wegen des unsachgemäßen Gebrauchs von Agrarchemikalien. Es war der erste diesbezügliche Prozess in ganz Lateinamerika. Die Richter verurteilten einen Landwirt und seinen Sprühpiloten zu drei Jahren Haft auf Bewährung. Auslöser des Prozesses war der Tod eines Babys vor 13 Jahren. Während des Verfahrens präsentierte die Anklage 114 Kinder aus der betroffenen Gegend. Bei allen wurden erhöhte toxikologische Werte im Körper nachgewiesen.

Den ehemaligen Sprüher Roberto Ríos erinnert das an einen Streit, den er mit seinen Chefs hatte. Er weigerte sich, die Felder neben einer Schule zu besprühen. Doch die Agraringenieure seiner Firma beruhigten ihn und versprachen, dass alles ungefährlich sei. Also sprühte Ríos. Bis heute hat er deswegen Gewissensbisse.

„Gesundheit und Krankheit sind etwas sehr Intimes“, sagt auf der Versammlung im alten Bahnhof von Ibarlucea die junge Mutter Lucila Algraín. Viele Menschen würden nicht gerne darüber reden, weil sie glauben, dass die Krankheit ihr Schicksal sei. „Sie sehen nicht, dass die Landwirtschaft schuld ist, wie wir sie heute betreiben.“ Aber wer kann die wieder ändern?

Mitarbeit und Übersetzung aus dem Spanischen: Philipp Lichterbeck

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