Gewalt im Fußball? In Argentinien vielleicht, aber nicht in Deutschland. Das sagt "11 Freunde"-Gründer und Buchautor Reinaldo Coddou. Der Fußballfan und Stadienfotograf ("Fußballtempel", "Kunstschuss") spricht mit n-tv.de über die derzeitige "Gewalt-Debatte", über alte Stadien und neue Arenen, über Maradona, Messi, den argentinischen Fußball - und seinen größten Traum.
n-tv.de: Herr Coddou, Sie haben das Fußball-Kultblatt "11 Freunde" mitgegründet, sind Buchautor und einer der bekanntesten Stadienfotografen weltweit - seit Kurzem ist ihr neuer Bildband "Kunstschuss" im Handel, mit den "schönsten Fußballfotos der Welt". Wie sind Sie auf die Idee zu diesem Buch gekommen?
Coddou: Es ist ein Gedanke, der mich schon seit Jahren während meiner Arbeit als Bildredakteur für "11 Freunde" und andere Kunden begleitet: einmal all meine Lieblingsfotos in einem Bildband zusammenzufassen. Ich recherchiere viel zu dem Thema und dabei sind mir immer wieder Bilder untergekommen, wo ich dachte "Wow, dieses Bild muss man doch irgendwann zu einer besonderen Gelegenheit zeigen!". Und über die Jahre sind einige sehr schöne Motive zusammengekommen.
Davor sind von Ihnen bereits die Bände "Buenos Aires" und "Fußballtempel" mit Panoramafotografien von Stadien erschienen. Was ist so faszinierend daran, Stadien zu fotografieren?
Das interessante an Stadien ist: Selbst wenn sie leer sind - wenn man sie betritt, erwachen sie zum Leben. Selbst wenn es dort mucksmäuschenstill ist, spürt man, dass da etwas ist, auf den Rängen, in der Architektur. Das fasziniert mich so an einem leeren Fußballstadion.
Nichtsdestotrotz lebt ein Fußballstadion doch vom Spiel, von den Fans?
Das stimmt. Das Geschehen auf dem Rasen und auf den Rängen, die Stimmung dort, das macht auch ein Fußballstadion aus.
Bevorzugen Sie eher die alten Stadien oder die neuen Arenen?
Ganz klar die alten Stadien. Deren Architektur ist nicht so uniform wie die der neuen Arenen. Die unterscheiden sich kaum noch: Es gibt die meist kleine Heim-Stehtribüne, die noch kleinere Gäste-Stehtribüne, dazu noch auf der Haupttribüne eine kleine verglaste und verspiegelte VIP-Loge. Von außen sehen sie fast gleich aus, von innen unterscheiden sie sich nur durch die Farbe der Sitzschalen. So etwas langweilt mich. Die alten Stadien haben dagegen noch ein eigenes Gesicht, mehr Charakter. Selbst die alten Betonschüsseln aus den 1970ern mit ihren Laufbahnen hatten noch ihren eigenen Charme. Da wusste man bei einem Fernsehbericht nach spätestens zwei Sekunden, in welchem Stadion man sich befindet.
Haben Sie ein Lieblingsstadion, die "Alte Försterei" des 1. FC Union Berlin ist ja beispielsweise nicht gerade das, was man ein Standardstadion nennen würde?
Ja, das Union-Stadion gefällt mir ausgesprochen gut. Allerdings muss ich sagen, dass es mir noch besser gefallen hat, als es noch nicht umgebaut war: mit den alten Stehplatz-Tribünen und der fehlenden Überdachung. Da war es noch ursprünglicher. Das mag ich besonders. Nichtsdestotrotz: Seine drei Stehplatztribünen machen es zu einer absoluten Seltenheit in Deutschland.
Ihr absoluter Favorit ist aber ein anderes?
Ja, der Gladbacher Bökelberg ist mein absoluter Favorit. Da bin ich als Bielefelder mit der Arminia immer gern hingefahren. Natürlich gefällt mir auch die Bielefelder Alm (lacht). Dortmund beeindruckt allein schon durch seine schiere Größe. Und von den moderneren neugebauten Stadien noch das HSV-Stadion.
Das lässt auf einen Fußballromantiker schließen …
Wenn Sie so wollen: Ja. Aber es gibt schlimmeres. (Lacht)
Als Fußballromantiker, welches ihrer Bücher hängt Ihnen am meisten am Herzen?
"Buenos Aires"! "Kunstschuss" habe ich "nur" herausgegeben, da sind nur wenige eigene Bilder drin, die meisten Werke sind von anderen Fotografen. "Fußballtempel" ist ein Band mit Stadionbildern, die sich im Laufe der letzten 14 bis 15 Jahre bei mir angesammelt haben. Am Ende gewissermaßen eine reine Fleißarbeit. "Buenos Aires" dagegen, das war ein Projekt, wo ich innerhalb von sechs bis sieben Monaten zielgerichtet an einem Konzept, einer Idee gearbeitet habe, wo ich wusste, dass daraus ein Buch entstehen wird. Es hängt mir auch am Herzen, weil die Zeit in Buenos Aires für mich eine ganz besondere gewesen ist.
Inwiefern?
Nach acht Jahren "11 Freunde" wollte ich Anfang 2009 den nach Buenos Aires - allein, um den größtmöglichen Abstand zum Fußballbusiness zu gewinnen. Das hat natürlich überhaupt nicht geklappt (lacht). Ganz im Gegenteil. Ich habe relativ schnell wieder angefangen, ins Stadion zu gehen - das lässt sich in Buenos Aires einfach nicht vermeiden. Und habe dann auch recht schnell wieder angefangen, Fußball zu fotografieren. Zurück in Deutschland habe ich die Bilder Freunden gezeigt, die mir rieten, daraus ein Buch zu machen. Mein Verlag war von der Idee auch schnell angetan. Daraufhin bin ich wieder zurück nach Buenos Aires und habe drei Monate fast täglich die dortige Fußballkultur fotografiert.
Seitdem gelten sie auch als Kenner des argentinischen Fußballs. Was unterscheidet ihn denn vom deutschen?
Vom Fußballerischen her ist argentinischer Fußball - bis auf wenige Ausnahmen - zwei Klassen schlechter als die Bundesliga. Es wird wesentlich härter gespielt, körperlicher, aggressiver. Gleichzeitig wird auch mehr für die Galerie gespielt: ein Tunnel, ein schöner Hackentrick - das ist für die Argentinier keine brotlose Kunst, das wollen die Fans sehen. Zudem sind die Spieler in der argentinischen Liga sehr jung, daher erscheint das Spiel oftmals sehr unreif.
Und bei den Fans? Gibt es da Unterschiede zwischen Deutschland und Argentinien?
Die argentinischen Fans sind fanatischer und stimmungsvoller als hierzulande - selbst wenn die Stadien halbleer sind: Da wird das ganze Spiel über gesungen und angefeuert. Die Stimmung dort ist mit einem Wort: legendär. Das einzige Problem dabei ist die immer noch ausufernde Gewalt in den argentinischen Stadien, die man nicht in den Begriff bekommt.
Apropos Fußballgewalt. Das Thema wird ja derzeit wieder einmal auch hierzulande heiß diskutiert …
Ja, aber da sollte man die Kirche im Dorf lassen! Wenn der Platzsturm in Düsseldorf bei dem Relegationsspiel gegen Hertha als Fußballgewalt bezeichnet wird, frage ich mich, wo diese gewesen sein soll. Ich habe das nicht so gesehen. Das Thema ist auch von den Medien aufgebauscht, von Politikern im Wahlkampf missbraucht worden, teilweise auch mit undurchsichtigen Statistiken. Da finde ich es im Gegensatz dazu wiederum gut, dass der neue DFL-Geschäftsführer Andreas Rettig versucht, der Debatte etwas Wind aus den Segeln zu nehmen, sie zu normalisieren. Ich glaube, beim Thema Gewalt im Fußball gibt es in anderen Ländern viel gravierendere Probleme als in Deutschland - und hierzulande viel gravierendere Probleme als Gewalt im Fußball.
Zurück zu Argentinien: Die ganze Fußballwelt feiert den Dauer-Weltfußballer Lionel Messi. Im Gegensatz dazu liegt der letzte große Erfolg der argentinischen Nationalmannschaft bereits Jahrzehnte zurück. Wie ist das zu erklären?
Das ist schwer zu sagen. Die große Menge an argentinischen Talenten ist eigentlich wie dafür gemacht, einen großen Titel zu holen. Ich glaube, die große Diskrepanz besteht darin, dass die besten Spieler nicht in einem Land spielen, den Ligaalltag nicht miteinander bestreiten. Eine Blockbildung, wie sie bei einem großen Turnier sehr wichtig ist und wie wir sie in Deutschland schon immer gehabt haben - früher Bayern/Gladbach, jetzt Bayern/Dortmund - gibt es bei Argentinien nicht. Da laufen welche in Spanien auf, andere in Italien, England und sonstwo. Die spielen so gut wie gar nicht gegeneinander, geschweige denn miteinander. Das macht es für Argentinien so schwierig, aus den wirklich guten Talenten ein funktionierendes und erfolgreiches Team zu machen.
Zwei große Namen des argentinischen Fußballs sind Diego Maradona und der bereits erwähnte Lionel Messi. Was unterscheidet diese beiden Ausnahmekönner voneinander?
Da wären zum einen die unterschiedlichen Zeiten, in denen sie spielen und gespielt haben. Zudem war Maradona ein absoluter Einzelakteur, Messi ist dagegen ein absoluter Mannschaftsspieler. Maradona hat eher selten Tore vorbereitet, Messi dagegen - zumindest gefühlt - hat genauso viele Tore vorbereitet wie selbst erzielt. Messi spielt heute und ist dadurch automatisch auch der modernere Spieler.
Der Titel des Buches "Kunstschuss" zeigt Diego Maradona, wie er mit dem Ball am Fuß auf mehrere belgische Spieler zuläuft, wo jeder einzelne von ihnen so aussieht wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange. Das war bei der WM 1986. Das Bild hat ein Kollege von Ihnen gemacht. Welches Motiv würden Sie gern noch fotografisch einfangen?
Ein Stadion. Das Azteken-Stadion in Mexiko. Allerdings sind die Organisation und die Umsetzung dieses Projekts bislang noch zu teuer. Britische Stadien sind natürlich auch für jeden Fußballfan interessant und eine Herausforderung. Aber das Azteken-Stadion, da hätte ich mit Abstand am meisten Lust drauf.
Mit Reinaldo Coddou sprach Thomas Badtke
"Kunstschuss" bei Amazon bestellen
"Buenos Aires" bei Amazon bestellen
"Fußballtempel" bei Amazon bestellen
Bilderserie
Entscheidend ist nicht nur aufm Platz
Die schönsten Fußballfotos aller Zeiten
Quelle: n-tv.de