Buenos Aires. In Argentinien geht am kommenden Sonntag eine Ära zu Ende. Nach zwölf Jahren des "Kirchnerismo", eine Form des gemäßigten Linkspopulismus, vertreten zuerst von Nestor und dann von seiner Ehefrau Cristina Kirchner, wählt das Land am 25. Oktober einen neuen Präsidenten. Offen ist nicht nur, wer das Rennen gewinnt, sondern auch, ob es dem Sieger gelingen wird, sich vom "Kirchnerismo" zu distanzieren.
Sowohl Cristina Fernandez de Kirchner, als auch ihr verstorbener Mann Nestor, gelten als Vorzeigebeispiel eines linken Populismus. Weniger bekannt ist, wie sehr sich ihre Politik an den Theorien des argentinischen Postmarxisten Ernesto Laclau (1935 - 2014) orientierte. Seine Theorie des Populismus liest sich wie ein Handbuch des Kirchnerismus.
Zentral in Laclaus Populismuskonzept sind sogenannte Äquivalenzketten: Zusammenschlüsse möglichst vieler Menschen mit möglichst vielen Einzelinteressen rund um einen kleinsten gemeinsamen Nenner, genannt "leerer Signifikant". Umso umfassender diese Äquivalenzketten werden, umso mehr Menschen und Einzelinteressen sie also umfassen, umso weniger Inhalt kann dieser "leere Signifikant" haben, schreibt Laclau: "Im Endeffekt, als reductio ad absurdum, kann es ein bloßer Name sein - häufig der eines Führers." Oder eben der zweier Präsidenten: "Kirchnerismus".
Die Einzelinteressen einer "Äquivalenzkette" können gänzlich unterschiedlicher Natur sein, etwa Unzufriedenheit mit medizinischer Versorgung, dem Bildungs- oder Wohnungsangebot, der Sicherheits-oder Verkehrssituation,... Wichtig ist nur, dass diese sich als kollektives Ganzes begreifen und sich als "Wir" gegen ein "Anderes" definieren, als "populare Klasse" gegen "die Machthaber".
Die zahlreichen in Argentinien existierenden politisch-sozialen Bewegungen, die in den vergangenen Jahren großzügig aus der Staatskasse finanziert wurden, können durchaus als "Äquivalenzkette" verstanden werden. Ähnliches gilt für soziale Maßnahmen zugunsten der ärmeren Schichten, wie Familienbeihilfen oder dank staatlicher Subventionen niedrig gehaltene Gas-, Strom- oder Wasserpreise.
Auch das konfliktgeladene Verhältnis "des Volkes" gegenüber "reicher Machthaber" findet sich in der argentinischen Wirtschaftspolitik der letzten Jahre, die vor allem die großen (Soja-)Farmer des Landes und die Unternehmen traf. Und die Weigerung, von "Geierfonds" gehaltene Schulden zu zahlen, war wohl mindestens so sehr eine Frage des Prinzips wie der wirtschaftlichen Möglichkeiten.
Laclau argumentiert übrigens auch, die aktuellen "nationalpopularen Demokratien Lateinamerikas" (Argentinien, Brasilien, Bolivien, Ecuador) seien angesichts der starken Stellung des Staatsoberhauptes nicht mit den "europäischen parlamentarischen Regierungsformen" vergleichbar. Seine Witwe, die belgische Politikwissenschafterin Chantal Mouffe (72), mit der er gemeinsam große Teile seiner Theorie entwickelte, scheint dies etwas anders zu sehen. Sie arbeitet aktuell eng mit der spanischen Linkspartei "Podemos" und der griechischen "Syriza" zusammen.
Präsidentenwahl in Argentinien
Der Erfolg der argentinischen Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner scheint aus europäischer Perspektive oft paradox. Argentinien liegt wirtschaftlich am Boden. Der internationale Währungsfonds rechnet für 2015 mit einem mageren Wachstum von 0,4 Prozent, im kommenden Jahr gar mit einem Minus von 0,7 Prozent, das Budgetdefizit liegt bei über fünf Prozent. Dazu kommt eine Inflation, die seit Jahren konstant über 20 Prozent liegt und im September knapp 26 Prozent erreichte.
Um zu verhindern, dass Argentinier angesichts dieser Ausgangslage ihr Geld in Dollar im benachbarten Fiskalparadies Uruguay parken, ließ Kirchner strikte Devisenkontrollen einführen. Mit dem Ergebnis, dass der offizielle Wechselkurs des Peso zum Dollar nur auf dem Papier existiert und der Schwarzmarktkurs - der Mitte Oktober mit 16,10 statt den offiziellen 9,5 Pesos einen neuen Höchststand erreichte - zum eigentlichen Referenzwert wurde. Und reiche Argentinier ihr Vermögen erst recht ins Ausland bringen.
Dennoch darf sich die in ihrem Land nur als "la Cristina" bekannte Kirchner weiterhin über Beliebtheitswerte von über 50 Prozent freuen. Auch die Präsidentenwahl würde die 62-Jährige, deren Mann 2010 an einem Herzinfarkt starb, spielend gewinnen, verböte ihr die Verfassung nach zwei Amtszeiten (2007 - 2011 und 2011 - 2015) nicht eine dritte Kandidatur in Folge.
Der Schlüssel liegt in dem für Lateinamerika so typischen Klientelismus gepaart mit einer geschickten Politik der Allianzen. Vor allem die ärmeren Schichten profitierten unter den Kirchners von einer großzügigen Familienbeihilfe sowie von staatlich subventionierten Strom-, Gas- und Wassertarifen. Zudem kann "la Cristina" auf die Unterstützung zahlreicher politisch-sozialer Bewegungen zählen, die in den vergangenen Jahren umfangreiche Zuschüsse aus der Staatskasse bekamen.
Zum Feind machte sich Kirchner hingegen nicht nur den mächtigen Medienkonzern "Clarin", sondern auch einen Großteil der Unternehmer, darunter vor allem Soja-Großexporteure, die unter den Devisen- und Importrestriktionen im Land leiden. Diese setzen ihre Hoffnungen nun auf den liberal-konservativen Kandidaten der Allianz Cambiemos ("lasst uns [Argentinien] verändern"), Mauricio Macri (56).
Der früherer Präsident des legendären Fußballklubs "Boca Juniors" und aktuelle Bürgermeister von Buenos Aires, versprach zwar eine allgemeine Liberalisierungspolitik - darunter ein Ende von Devisenkontrollen und Importrestriktionen - traut sich aber nicht, Cristinas Sozialmaßnahmen zurückzunehmen. "Ich bin nicht gekommen, um euch irgendetwas wegzunehmen. Alle, die bisher Sozialhilfe erhalten haben, werden dies weiter tun. Nur werden sie künftig auch die Möglichkeit haben, zu arbeiten", sagte er kürzlich sehr zur Überraschung seiner traditionellen Wählerklientel.
"Daniel wird unser großes Werk fortsetzen"
Für Überraschungen gut, ist auch Kirchners Wunschnachfolger Daniel Scioli (58) von der mitte-links-Gruppierung "Frente para la Victoria" (Front für den Sieg). Einst Unterstützer des ultraliberalen Präsidenten Carlos Menem (1989 - 1995 und 1995 - 1999), wurde er danach Vizepräsident unter Nestor Kirchner. Lange erklärter Gegner von Cristina Kirchner, die Scioli wiederum als viel zu rechts ansah, schlossen der Gouverneur von Buenos Aires und die Präsidentin erst kürzlich ihren Frieden. "Daniel wird unser großes Werk fortsetzen", sagte Kirchner danach, über den achtfachen Speedboot-Weltmeister, der bei einem Unfall seinen rechten Arm verlor.
Aktuell ist Scioli Favorit in allen Umfragen, die ihm zwischen 38,3 und 42 Prozent der Wählerstimmen prognostizieren, während der zweitplatzierte Macri lediglich auf 28 bis 29,2 Prozent kommt. Damit bleibt spannend, ob Scioli das Rennen im ersten Wahlgang für sich entscheiden kann. Dafür wären entweder 45 Prozent der Stimmen oder 40 Prozent mit einem 10-prozentigen Vorsprung auf den Zweitplatzierten nötig. Gelingt dies nicht, könnte es eng werden für Kirchners Wunschnachfolger. Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, dass bei einer Stichwahl am 22. November die Opposition zum gemeinsamen Votum gegen Scioli aufruft und ihm so den ersten Platz noch streitig macht.
Doch auch wenn es dem Speedboot-Fahrer gelingt sich durchzusetzen, ist offen, wieweit er aus Cristinas Schatten treten kann. Beobachter glauben kaum, dass sie sich wirklich aus dem Zirkel der Macht zurückziehen wird. "Sie wird sich nicht damit begnügen, ihren Garten zu pflegen oder auf ihre Enkel aufzupassen", erklärte kürzlich auch Regierungschef Anibal Fernandez. Und schließlich ist da auch noch die nächste Präsidentenwahl 2019, bei der Kirchner laut Verfassung wieder antreten dürfte.
Eine Veränderung scheint nach dem Ende der Ära Kirchner aber bereits fix. Sowohl Macri als auch Scioli haben angekündigt, endlich den Streit mit den "Geierfonds" beilegen zu wollen, die von Argentinien aktuell zwei Milliarden Dollar (1,77 Mrd. Euro) fordern. Die Ansprüche stammen noch aus der Zeit der argentinischen Staatspleite 2001, als sich die Inhaber der Fonds als einzige weigerten, einem Schuldenschnitt zuzustimmen. Ein New Yorker Gericht urteilte, Argentinien müsse diese Investoren vorrangig bedienen, was Kirchner wohl großteils aus ideologischen Gründen ablehnte. Deshalb gilt das Land seit 2014 technisch als zahlungsunfähig, was selbst Scioli nun ändern will: "Argentinien hat den Willen und die Ressourcen, um unter gerechten Bedingungen zu zahlen", sagte er kürzlich.