Pharmakonzerne testen Heilmittel in armen Ländern und verletzen ethische Standards
Von Petra Wessalowski
Bern Bei Lebensmitteln und Kleidern verzichten viele Konsumenten auf Produkte, die von schlecht bezahlten Arbeiterinnen und unter unwürdigen Bedingungen hergestellt werden. Was sie nicht wissen: Auch beim Testen von Medikamenten werden unterschiedliche Massstäbe angewandt, abhängig vom Land, in dem der Versuch durchgeführt wurde.
Wie internationale Pharmakonzerne in Ländern wie Indien, der Ukraine, Russland oder Argentinien Menschen als Versuchskaninchen benutzen, zeigen umfangreiche Recherchen der Nichtregierungsorganisation Erklärung von Bern (EVB), die kommende Woche veröffentlicht wird.
Ein Beispiel ist Maria (Name geändert) aus Argentinien. Sie ist dreissig Jahre alt, Mutter von zwei Kindern, und leidet an Lupus Nephritis. Die Autoimmunkrankheit kann zu Nierenversagen führen. Maria hat keine Krankenversicherung und lässt sich in Buenos Aires in einem öffentlichen Spital behandeln - ohne Erfolg.
Als der Arzt ihr vorschlägt, an einem Versuch des Schweizer Pharmakonzerns Roche teilzunehmen, stimmt sie zu. Sie erhält während zweier Jahre das neue Medikament und zusätzlich Cellcept, das in Argentinien zwar zugelassen ist, aber nicht für ihre Krankheit. In ihrer Einverständniserklärung zum Versuch fehlt der Hinweis auf Cellcept. Als der Test wegen negativer Ergebnisse abgebrochen wird, erhält Maria auch das bei ihr wirkende Cellcept nicht mehr.
Marias Fall zeigt klar drei Probleme: Sie hatte keine andere Möglichkeit, eine Behandlung zu erhalten, es gab Fehler bei der Einverständniserklärung, und sie wurde nach Studienende nicht weiterbehandelt.
Die EVB kritisiert nun die Schweizer Heilmittelbehörde Swissmedic, dass sie ihre Kontrolle nicht wahrnehme. Für EVB?Gesundheitsexperte Patrick Durisch sind die «aktuellen ethischen Grundlagen für die Zulassungsentscheide von Swissmedic wenig transparent». Dies ist laut EVB umso bedeutsamer, als die europäische Arzneimittelbehörde die Kontrolle von ethischen Aspekten bei Auslandstudien verschärfen und die Transparenz deutlich steigern werde. «Wir befürchten, dass die Schweiz hinterherhinkt», sagt Durisch.
Studien werden immer öfter im Ausland durchgeführt
Dies umso mehr, als in der Schweiz jährlich zwischen 225 und 250 neue klinische Studien bewilligt werden. Die Zahl ist stabil, während sich die Forschung ins Ausland verlagert. Allein in Russland und Argentinien hatten Novartis und Roche laut EVB diesen Frühling 281 Studien laufen.
Swissmedic-Sprecher Daniel Lüthi wehrt sich. Die «Gute Praxis der klinischen Forschung» werde überprüft, darunter auch ethische Aspekte und jene in den Herkunftsländern der Studien. Die Heilmittelbehörde kann allerdings nicht beziffern, wie hoch der Anteil ausländischer Forschung bei der Zulassung von Medikamenten in der Schweiz ist. Durisch fügt noch einen weiteren Punkt an: «Bei der Verletzung ethischer Richtlinien besteht die Gefahr, dass die medizinischen Daten beeinflusst werden.»
Wie der Report zeigt, gibt es zahlreiche Gesetze zum Schutz der Patienten, die jedoch kaum umgesetzt werden. «Das Überwachungssystem ist unzureichend, und Swissmedic darf kein blindes Vertrauen haben», sagt Durisch.
Laut Carlo Conti, Präsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz und Swissmedic-Institutsrat, weist die Kritik zurück. Die Behörde frage bei Zweifeln nach. Man sei sich der ethischen Probleme bei klinischen Versuchen im Ausland durchaus bewusst.
Die EVB fordert nun von Gesundheitsminister Alain Berset, dass er den Leistungsauftrag der Heilmittelbehörde erweitert, die Einhaltung ethischer Standards in Entwicklungsländern zu überprüfen.
Das zuständige Innendepartment ist der Ansicht, dass die Schweiz mit dem neuen Humanforschungsgesetz bei der Transparenz auf dem gleichen Niveau sein wird wie die EU. Es tritt 2014 in Kraft. Bersets Sprecherin Nicole Lamon betont: «Bundesrat Berset ist es wichtig, dass ethische Standards eingehalten werden. Sollte sich ein Bedarf zeigen, wird er prüfen, welche Möglichkeiten es für Verbesserungen gibt.»
Mitarbeit: François Pilet
Publiziert am 15.09.2013