Nicht der Wein allein lockt Europäer nach Mendoza. Die Bergkulisse, vor der die Trauben hängen, ist die Sensation im größten Anbaugebiet Argentiniens
Es ist 10.52 Uhr, und endlich gibt es das erste Glas Wein. Endlich, denn seit über einer Stunde macht uns Laura Mendoza, die Mitbesitzerin des kleinen Weinguts San Diego in Lunlunta, den Mund wässrig. Die junge Frau zeigt uns die tiefroten Malbec-Trauben an den Reben, während wir den Hügel hinaufgehen. Sie erzählt, wann die Früchte erntereif sind - "weiche Haut, nein, harte Haut, ja" -, und drückt die Trauben so geschickt aus, dass kein Spritzer auf ihrem hellgrünen Schal landet, dafür aber der Saft blutrot auf die Erde tropft. Kurz: Die Sinne sind wie ein Pfitschipfeil gespannt, als die Zwölfergruppe endlich unter dem schattigen Olivenbaum sitzt. Mit den Worten "Jeder Tag ist ein besonderer Tag" öffnet Laura eine Flasche Rosé-Sekt.
Während wir trinken, redet Laura in perfektem Englisch weiter: von den 320 Sonnentagen hier in der argentinischen Mendoza-Region, die für die Malbec-Traube so wichtig sind. Sie lässt sich auch durch das Auftauchen eines erdfarbenen Fuchses nicht aus dem Konzept bringen. Ganz im Gegenteil, grinsend erklärt die blonde Frau, dass die Familie die Tiere mit rohem Fleisch anlockt. Wegen der Füchse bleiben die Vögel fern, und so können die Trauben ungestört reifen.
Für Laura könnte ihr Rosé-Sekt auch als Champagner durchgehen. Aber natürlich darf sie das nicht aufs Etikett schreiben. Das lassen die Franzosen nicht zu. Champagner darf nur aus der Region der Champagne kommen. So heißt der verkostete Schaumwein "Elea", benannt nach der Nichte von Laura. Elea ist die Prinzessin der Familie, sechs Jahre alt und Besitzerin eines selbstgebauten Holzhäuschens am anderen Ende des Rasens. Weil sie so gerne von den Malbec-Trauben genascht hat, aus denen der Sekt gekeltert ist, wählte Lauras Vater die Enkelin als Namenspatronin aus.
Menschen aus aller Welt interessieren sich inzwischen für Malbec-Trauben - und mehr noch für die Region Mendoza, in der sie so gut gedeihen. Sie reisen nach Mendoza, die größte und wichtigste Weinregion Argentiniens, um einige der vielen Güter kennenzulernen und beste Tropfen zu probieren.
Seit Ende der 1990er-Jahre investieren hier Winzer in Qualitätsweine und erreichen Restaurants und Weinhändler in Nordamerika, Europa und Australien. Der Schweizer Künstler und Musiker Dieter Meier, in den 1980er-Jahren mit der Band Yello berühmt geworden, besitzt in Agrelo Alto ein eigenes Gut und verkauft die Weine unter dem Label "Puro". Hier sei das beinahe durchgehend trockene Klima eben gut für die "zickige Malbec-Traube", wie er einmal sagte, die bei feuchter Kälte schnell eingehe.
Rund um die Stadt Mendoza wird beinahe jeder Quadratmeter Land für den Weinanbau genutzt. Von der Straße aus sind die Reben gut erkennbar, das Grün der Blätter mischt sich mit dem staubigen Boden, manchmal rennen herrenlose Hunde über den Asphalt, stets darauf bedacht, den Menschen nicht zu nahe zu kommen. Bei schönem Wetter - und das trifft ja fast auf jeden Tag zu - verschwinden die Estancias, Bäume und Büsche vor dem mächtigen Eindruck der nahen Anden. Sieben Busstunden entfernt hinter den Bergen liegt Santiago de Chile, mindestens 13 Stunden durch die Pampa brauchen die Busse in die Hauptstadt Buenos Aires. Rund eineinhalb Millionen Menschen leben in der westlichen Provinz Mendoza, die überwiegende Mehrheit von ihnen in der gleichnamigen Provinzhauptstadt.
Neun Weinwelthauptstädte
Seit ein paar Jahren zählt die Stadt Mendoza neben Städten wie Bordeaux oder Mainz zu den neun "Great Wine Capitals of the World". Immer Ende Februar oder Anfang März kommen jedes Jahr tausende Touristen zum Weinfestival Vendimia, bei dem eine bunte Parade durch die Straßen zieht. Jede Gemeinde sponsert einen gigantischen Lastwagen, auf dem die Weinkönigin des jeweiligen Ortes thront, winkt und viel lächelt. Am Ende der Feierlichkeiten wird die Majestät aller Königinnen gewählt - eine ernste Angelegenheit in und um Mendoza. Geschäfte, Banken und Autohäuser bekunden mit Bannern ihre Parteilichkeit, als hinge davon das Überleben der Region ab.
Obwohl die Stadt Mendoza im 16. Jahrhundert von Spaniern gegründet wurde, erinnert heute kaum noch etwas an die Kolonialzeit. Mendoza wurde 1861 von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht. Mehr als 12.000 Menschen sollen damals gestorben sein, die New York Times schrieb über die Überlebenden: "Diejenigen, die noch arbeiten können, finden niemanden, der sie einstellen kann, und die größtmögliche Armut liegt nun vor ihnen."
Die Stadt lebt von den Parks, der spektakulären Aussicht auf die Anden und dem Tourismus. Manche Anbieter haben Klettertouren im Programm, in einigen Hochtälern kann man Wildwasserkanu fahren, aber das meiste verdient die Reisebranche an den Weinfans. Tagestouren in großen Bussen werden organisiert, aber auch Fahrradtrips, individuell oder in kleinen Gruppen. Und natürlich soll überall verkostet werden, was in den Eichenfässern so reift.
Die Option einer Fahrradtour klingt auf dem Papier sympathisch, allein drei Umstände erschweren das fröhliche Strampeln: Temperaturen von oft über 30 Grad, die weit verstreute Lage der Weingüter - und vor allem das völlige Desinteresse argentinischer Lkw-Fahrer, gegenüber den kleinen Wesen am Straßenrand Rücksicht walten zu lassen. Über Mendozas Straßen läuft der gesamte Güterverkehr in Richtung Chile, und das tut er verdammt schnell.
Da erscheint eine kleine organisierte Tour wie die von Malbec Symphony schon sicherer. In einem Mini-Van fahren wir in die Region um den Ort Maipu, besuchen drei Winzer und erfahren nebenbei Interessantes über die Geschichte des Landstrichs: dass die katholische Kirche im 17. Jahrhundert den Weinanbau in die Wüstengegend gebracht hat - um Messwein vorrätig zu haben. Dass italienische Einwanderer Ende des 19. Jahrhunderts das Weintrinken salonfähig machten und damit die massenhafte Kultivierung der Wüste einsetzte - dank eines ausgeklügelten Kanalsystems, das Wasser aus den Anden in die Stadt und die Weingüter umleitet.
Das Wasser fließt in Gräben entlang der Straßen, Schieber regeln die Zufuhr zu den Gehöften. Auch zu dem von Familie Mendoza, wo Laura die nächste Flasche öffnet. Sie riecht an dem Rotwein, 80 Prozent Malbec, 20 Prozent Cabernet Sauvignon, und schwärmt: "Zimt! Das erinnert mich an die Apfelkuchen meiner Großmutter."
Der Blick schweift zur kleinen Kirche am Eingang des Dorfes. Keine Sehenswürdigkeit, die in Reiseführern einen Stern bekäme, aber vor der Kulisse des sattgrünen Rasens und des azurblauen Himmels machen die beiden lehmfarbenen Kirchtürme einen stärkeren Eindruck als der Stephansdom in seinem engen Korsett der Innenstadt. Am Horizont erhebt sich 6570 Meter hoch der schneebedeckte Gipfel des Tupungato. Neben der Winzeroase weisen schroffe Sand- und Steinhügel auf die ursprüngliche Landschaft hin, bevor die Siedler Wein, Olivenbäume und tausende Pappeln pflanzten.
Das Lachen des Platzhirschs
5000 Flaschen Wein pro Jahr produziert die Domaine San Diego, darüber lachen sie auf dem Weingut Trapiche höchstens. Denn Trapiche bringt es auf 29 Millionen Liter im selben Zeitraum. Das Gut ist der Platzhirsch unter den Herstellern - und das völlige Gegenteil zum kleinen Familienbetrieb Mendoza, in dem noch der Vater mit Schaufel und kurzen Hosen an den Besuchern vorbeimarschiert.
Bei Trapiche, 20 Minuten Autofahrt entfernt, gibt es Empfangsdamen in Businesskleidung, die jeden Gast in einem Besucherzentrum begrüßen. Man zeigt einen Imagefilm über die restaurierte Industrieanlage, Hochglanzprospekte über die ausgezeichneten Weine werden verteilt, und natürlich wird zur Weinverkostung gebeten: Diesmal probieren wir einen Iscay 2008, einen Malbec Cabernet Franc. Ein, zwei Schluck steigen sofort in den Kopf, kein Wunder bei einem Alkoholgehalt von 14,5 Prozent.
Seit 1912 werden hier Rot- und Weißweine produziert. Die Geschichte merkt man dem Backsteinbau an jeder Ecke an. Auf einem gusseisernen Kanaldeckel steht "Arthur Koppel". Die Firma Koppel belieferte vor dem Ersten Weltkrieg viele Betriebe der Neuen Welt, das Grab des Gründers befindet sich auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee in Berlin. Die stillgelegten Gleise am anderen Ende des Guts erzählen von der Zeit, als alle Weinfässer in die Hauptstadt Buenos Aires verschickt wurden. Nur dort gab es Flaschen zum Abfüllen. Erst vor etwa 30 Jahren hörte dieser Unsinn auf. Mittlerweile fahren keine Züge mehr durch Mendoza. Ihre Aufgabe haben die allgegenwärtigen Trucks übernommen.
Die zwölfköpfige Gruppe der weit für den Wein Gereisten ist nun ordentlich aufgekratzt. Hunger! Nach rund 30-minütiger Fahrt, vorbei an Weingütern und halbfertigen Bodegas, erreicht sie das Gut Zuccardi. Im Nirgendwo warten weitere Weinflaschen und Fleischberge auf sie. Geflügel, Rind, Schwein und reichlich gegrilltes Gemüse als Beilage, alles von fleißigen Kellnern serviert. Wer sie weniger als fünfmal um einen großen Nachschlag bittet, verliert sein Gesicht.
Nach dieser Kraftanstrengung sind die Weintouristen entsprechend erledigt und büseln eine Stunde, bis der Van wieder Maipu erreicht. Viele Reisende haben sich auf einem der Güter einquartiert, die ihre Umsätze mit Übernachtungen mehren und vor dem Abendessen Gratisverkostungen anbieten. Zum Beispiel im Tapiz Club, wo das ehemalige Herren- und das Dienstbotenhaus zum Hotel umgebaut wurden. Einen Swimmingpool gibt es, Zwetschkenbäume im Garten und eine kleine Olivenöl-Manufaktur zur Besichtigung. Auch boomende Kurse in einer nahen Kochschule sind im Angebot. Und voneinander lernen können alle bei der Verkostung mit Santiago. Der stämmige Mittvierziger präsentiert die Weißweine formvollendet, er schwenkt die Gläser, schnuppert und schlägt die Note vor: "Pfirsich?", fragt er in die Runde. Eine Deutsche protestiert: "Holunder!" Santiago hat noch nie von dieser Frucht gehört. Diplomatisch sagt er: "Wenn Sie meinen."
Noch eine volle Stunde nippen die Gäste des Clubs am Wein, langsam geht die Sonne hinter den Anden unter - ein Tag könnte wirklich schlimmer ausklingen. Doch nach acht oder neun Verkostungen zwischen Frühstück und Rinderbraten geht es manchem wie dem jungen Engländer in der Runde, der nur sagt: "Ich hätte jetzt wirklich gern ein Gin Tonic." (Ulf Lippitz, DER STANDARD, Rondo, 14.3.2013)