Kolumbiens Wirtschaft zieht an Argentinien vorbei

    Von DARCY CROWE und TAOS TURNER

[image]Reuters

Menschen protestieren in Buenos Aires gegen die hohe Inflationsrate.

Im Augenblick bleibt den Argentiniern kaum etwas erspart. War die Abwertung ihrer Landeswährung Peso schon ein Schlag ins Gesicht, wartet bereits die nächste wirtschaftliche Schmach auf sie: Kolumbien hat Argentinien höchstwahrscheinlich als drittgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas überholt.

Jahrzehnte lang hatte Argentinien Kolumbien wirtschaftlich in den Schatten gestellt. Doch dieser langjährige Trend hat sich nach Berechnungen von Volkswirten im Januar umgekehrt, denn der Wertverfall des argentinischen Peso hat die Wirtschaft des Landes auf Dollar-Basis schrumpfen lassen. Letzte Zweifel an dieser These seien wenige Wochen später ausgeräumt worden, nachdem der Peso abgewertet wurde, sagen die Experten.

Die Londoner Forschungsgruppe Capital Economics beziffert die Jahreswirtschaftsleistung Argentiniens für 2013 mit geschätzt 343 Milliarden US-Dollar. Dazu haben die Analysten den neuen argentinischen Wechselkurs von rund 8 Peso zum Dollar herangezogen. Nach ihren Angaben erreichte Kolumbiens Wirtschaftsleistung im gleichen Zeitraum einen Wert von 350 Milliarden Dollar und hat sich damit gegenüber dem Regionalrivalen knapp durchgesetzt.

In Kolumbien herrscht eine gewisse Schadenfreude

"Das Ergebnis ist symptomatisch für einen umfassenderen Trend, demzufolge das Wirtschaftsmodell Argentiniens aus den Fugen gerät, während die kolumbianische Wirtschaft geschickt gesteuert wird", stellt Neil Shearing fest, der bei Capital Economics als Chefsvolkswirt für Schwellenmärkte zuständig ist.

In Kolumbien ist man schon seit längerem überzeugt, das Land im Süden wirtschaftlich aus dem Rennen geschlagen zu haben. Regierungsvertreter hatten bereits eigene Berechnungen präsentiert, die das erfolgreiche Überholmanöver des eigenen Landes belegten. Nun können sich kolumbianische Offizielle eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen.

"Das ist so, als hätte man es bei der Olympiade aufs Podest geschafft. Und es ist schon wahr, dass sich bei einem Rennen keiner daran erinnert, wer auf dem vierten Platz gelandet ist", sagte der kolumbianische Finanzminister Mauricio Cárdenas.

Kollektive Schadenfreude zu empfinden, ist eine ganz neue Erfahrung für Kolumbien, dessen eigener Ruf bis vor wenigen Jahren arg ramponiert war. Dafür hatten die Kokain-Kartelle im Land, etliche Entführungen und ein Bürgerkrieg gesorgt. Gleichzeitig unterstreicht die jüngste Entwicklung, von welch chronischen Leiden Argentinien heimgesucht wird, das zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts noch zu den reichsten Ländern der Welt zählte.

"Mit unserer Wirtschaft geht es abwärts, und die Lage verschlechtert sich immer weiter", sagt der 73-jährige Wirtschaftsprüfer Julio Roig aus Buenos Aires. "Selbst Uruguay exportiert jetzt mehr Rindfleisch als wir. Das winzige Uruguay. Das sagt auch schon alles."

Der argentinische Wirtschaftsminister Axel Kicillof wollte dazu nicht Stellung nehmen.

Die neue Platzierung direkt hinter den weit größeren Volkswirtschaften Brasilien und Mexiko verleihe Kolumbien aber nicht nur das Recht, sich zu brüsten. Seine frisch errungene Bronze-Position bringe dem Land vor allem handfeste wirtschaftliche Vorteile ein, betont der kolumbianische Finanzminister. "Rang drei einzunehmen, ist von strategischer Bedeutung. Denn das zieht Unternehmen an und es ist großartig für das Image von Kolumbien", sagt Cárdenas. "Unser Land sollte stolz darauf sein, die drittgrößte Volkswirtschaft in Lateinamerika zu sein."

Eine ganze Reihe von Faktoren habe Argentinien in die Knie gezwungen, darin stimmen viele Volkswirte überein. Sie verweisen auf die Devisenkontrollmaßnahmen des Landes, die kostspieligen Subventionen für den Energie- und Transportsektor, die hohe Inflation und den unkalkulierbaren Kurs der Regierung.

Argentinien hat deutlich weniger Dollar-Reserven

Kolumbien dagegen habe es nach Angaben der Regierung selbst während der jüngsten Turbulenzen auf den aufstrebenden Märkten geschafft, bei den Ausgaben Disziplin walten zu lassen und die Teuerung niedrig zu halten. Nach den neuesten verfügbaren Zahlen beliefen sich die Reserven der kolumbianischen Zentralbank Ende Januar auf 43,7 Milliarden Dollar, während Argentiniens Notenbank nur 28,1 Milliarden Dollar vorzuweisen hat.

"In Kolumbien haben wir unsere politischen Maßnahmen so ausgerichtet, dass die Wirtschaft vorhersehbar und langweilig wurde", erklärt der ehemalige Finanzminister Juan Carlos Echeverry. "Und das zahlt sich jetzt aus."

Volkswirtschaften einem Größenvergleich zu unterziehen, kann eine knifflige Aufgabe sein. Die Experten benötigen dazu eine Messlatte und ziehen als solche meist den Dollar heran. Aber die einzelnen Landeswährungen vollziehen gegenüber der US-Währung oft die wildesten Sprünge, so dass ihre Volkwirtschaften auf Dollar-Basis zuweilen den Anschein erwecken, größer oder kleiner zu sein, als sie es in Wirklichkeit sind.

"Währungskurse schwanken immer. Wirklich bedeutsam ist daher, dass Kolumbien nun schon seit mehreren Jahren einen stetigen Kurs der Fortentwicklung verfolgt, indem es die Rechte auf Privateigentum respektiert und eine klare politische Linie vorgibt", sagt Juan José Cruces, Volkswirt an der Universidad Torcuato Di Tella in Buenos Aires.

Die kolumbianische Regierung beharrt schon seit zwei Jahren darauf, Argentinien wirtschaftlich hinter sich gelassen zu haben. Doch um ihre Behauptung zu untermauen, hatten sich die kolumbianischen Offiziellen auf den Wert des argentinischen Peso auf dem Schwarzmarkt gestützt. Dort wird der Peso aber zu einem beträchtlichen Abschlag gegenüber dem offiziellen Wechselkurs des Landes gehandelt. Argentinien hat diesen Vergleich deshalb stets als unfair vom Tisch gewischt.

Doch jetzt dürfte Kolumbien in dieser Frage tatsächlich die Oberhand gewonnen haben. Denn nun scheint die argentinische Wirtschaft gegenüber der kolumbianischen auch dann den Kürzeren zu ziehen, wenn man dem Vergleich den offiziellen, regulierten Wechselkurs Argentiniens zugrunde legt - und zwar insbesondere, nachdem der Peso allein im Januar um rund 19 Prozent abgesackt war.

Dem Peso wird kaum Aufwärtspotenzial beschieden

Seitdem hat sich die argentinische Währung zwar leicht erholt, aber insgesamt messen Wirtschaftsexperten dem Peso vorerst kein großes Aufwärtspotenzial bei. Nur wenige Volkswirte sind der Ansicht, dass der Peso angesichts einer geschätzten Inflationsrate von über 25 Prozent auf Jahresbasis in diesem Jahr gegenüber dem Dollar zulegen kann. Außerdem rechnen viele Beobachter damit, das Argentinien im weiteren Verlauf des Jahres in eine Rezession abdriftet. Kolumbiens Wirtschaft dagegen dürfte Prognosen zufolge in diesem Jahr um rund 5 Prozent wachsen.

Und mittlerweile pflichten auch Wirtschaftsforscher der Annahme bei, dass Kolumbien den dritten Platz in Lateinamerika zu Recht für sich beansprucht. Denn neue Erkenntnisse legen nahe, dass die Regierung unter der Leitung der argentinischen Präsidentin Cristina Kirchner die hohen Wachstumsraten des Landes künstlich aufgebläht haben könnte.

Das Bruttoinlandsprodukt Argentiniens sei um mindestens 12 Prozent geringer als offiziell von der Regierung gemeldet. Dies geht aus einer Studie verschiedener Ökonomen der Universität von Buenos Aires hervor, an der Dale Jorgenson mitgewirkt hat. Der Volkswirt der Harvard University erklärt, dass die neue Untersuchung "die internationalen Standards widerspiegelt, die die argentinische Regierung nicht mehr auf ihre Konjunkturindikatoren angewendet hat".

Die Regierung in Buenos Aires behauptet, die Wirtschaft Argentiniens sei zwischen 2007 und 2012 um 30 Prozent geklettert. Die Gruppe der Wirtschaftswissenschaftler ist bei ihrer Überprüfung allerdings zu dem Resultat gelangt, dass der Zuwachs nur die Hälfte dieser vermeintlichen Wachstumsrate erreicht hat. Der Bericht, der im kommenden Monat im Fachjournal World Economics veröffentlicht werden soll, kommt zu einem verheerenden Schluss: Anstatt das Wachstum in Lateinamerika in den vergangenen 15 Jahren an vorderster Stelle mit vorangebracht zu haben, sei Argentinien schon seit 1998 seinen Nachbarn hinterhergehinkt.

"Es ist ein Mythos, dass die Wirtschaft in den vergangen zehn Jahren mit Raten wie in China gewachsen ist", urteilt Ariel Coremberg, Professor an der Universität von Buenos Aires, der die Forschungsarbeit federführend betreut hat. Bis 2007 hatte er im Auftrag der argentinischen Regierung die Wachstumszahlen des Landes berechnet, bevor er sich der Forschungsarbeit widmete. "Die Wirtschaft ist in der Tat gewachsen, aber nicht im Entferntesten so stark, wie die Regierung dies berichtet hat."

Zumindest hat die Kirchner-Regierung in diesem Monat bereits einen neuen Inflationsindex vorgestellt. Volkswirte halten das neue Teuerungsbarometer für weitaus glaubwürdiger als den Index, den Buenos Aires seit 2007 vorlegte und der zu den überdimensionierten Schätzungen für das Bruttoinlandsprodukt geführt habe.

Natürlich sei es beschämend, dass Argentinien auf der Wirtschaftsrangliste schon wieder einem Nachbarn Platz habe machen müssen, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Cruces. Aber es gebe eine Disziplin, da könne den Argentiniern keiner das Wasser reichen, auch die Kolumbianer nicht: Im Fußball habe Argentinien eindeutig die Nase vorn. "Kolumbien kann sagen, was immer es will. Aber wir werden auf sie warten - bei der Fußballweltmeisterschaft."

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