Es ist ein Tag Anfang Juni, als Winfried Hitzfeld (82) nochmals alle Kraft zusammennimmt. Er hatte in seinem Haus gerade Besuch von seinem 17 Jahre jüngeren Bruder Ottmar und begleitet ihn zu dessen Auto. Ein Händedruck, ein Lebewohl. Es ist das letzte Mal, dass sich die Brüder verabschieden können. Kurz darauf fliegt Hitzfeld mit unserer Nati zur WM 2014 nach Brasilien. Der Nati-Coach befürchtet schon da: «Vielleicht sehe ich meinen lieben Bruder nie mehr.»
Beatrix’ Anruf
Knapp vier Wochen danach. Hitzfeld sitzt in seinem Hotel in São Paulo und bereitet sich auf Argentinien vor. Wie immer kennt er schon Namen, Ausrichtung des Gegners, Stärken und Schwächen. Er ist sich sicher, dass man eine Chance hat. Es ist das Handy, dessen Klingeln ihn aus den Gedanken holt. Seine Frau Beatrix ruft an und sagt ihm, Winfried sei verstorben, er habe den Kampf gegen die Leukämie verloren.
Zwei Tage vor dem WM-Achtelfinal wird Hitzfeld emotional zu Boden geworfen. In einer TV-Dokumentation von Sky spricht der Ex-Nati-Coach nun offen wie nie über seine schweren WM-Tage (siehe Box). Er sagt: «Ich hoffte so, dass ich Winfried nochmals lebend sehen kann. Dass er selbst die WM noch erleben kann, weil er Fussball-Fan war. Aber leider ist er zwei Tage vor meinem letzten Spiel verstorben ...»
Hitzfeld ist so traurig, dass er sogar an einen sofortigen Rücktritt denkt. «Ich überlegte: Soll ich zurücktreten? Mache ich weiter?» Er fühlt sich leer, kurz kraftlos. Dann fällt er eine Entscheidung: «Ich beschloss, weiterzumachen, weil es im Sinne meines Bruders war. Aber ich versuchte, es geheim zu halten, alles mit mir selbst auszumachen, auch die Trauer.»
Das Problem: Am Spieltag kommt die Nachricht über ein Online-Portal an die Öffentlichkeit. Hitzfeld fühlt sich hilflos, sagt er offen. «Wir spielten schon um 13 Uhr, um 9.30 Uhr assen wir. Ich wusste: Die Mannschaft weiss es. Was mache ich jetzt? Wie geht die Mannschaft mit mir um? Ich habe dann beschlossen, dass ich nicht an meinen Tisch sitze, dann jeder Spieler vorbeikommt und kondoliert. Dann wäre ich in Tränen ausgebrochen. Also bin ich zu jedem Spieler hin und habe ihm die Hand gegeben. Jeder Spieler konnte kondolieren.» Und er die Fassung wahren. «Es war eine wahnsinnig emotionale Herausforderung. Man darf vor so einem Spiel nicht in Trauer verfallen, sonst weint man ja nur.»
Benaglio beeindruckt
Hitzfeld zeigt so der Mannschaft, dass man den Fokus sofort auf Argentinien lenkt. Goalie Diego Benaglio erinnert sich: «Es war eine Geste, die alles gesagt hat. Er hat der Mannschaft signalisiert: Ich werde mit der Situation umgehen, und jetzt konzentrieren wir uns aufs Sportliche. Es war sehr beeindruckend.»
Leider geht das Spiel gegen Argentinien 0:1 nach Verlängerung verloren. Hitzfelds Ende als Trainer. «Das Interessante war, dass nach dem Schlusspfiff sofort wieder die Trauer kam. Das Persönliche, das mich beschäftigt hat, das ich in den Hintergrund geschoben hatte, kam hervor. Mein Bruder war präsent», erinnert er sich. «Eigentlich wollte ich gar nichts mehr sagen, kein Interview mehr geben, nichts. Es war ein Schock. Nicht dass wir ausgeschieden waren, dass meine Karriere vorbei war, daran habe ich keinen Gedanken mehr verschwendet. Sondern ab jenem Moment habe ich mich wieder aufs Elementare unseres Daseins eingestellt: auf Leben und Tod.»