Heiliger Vater stürzt Gott Diego
Einst war Evita der Star in Argentinien, dann Diego Maradona. Papst Franziskus holte den Fußballgott vom Olymp der Verehrung – vorerst. Ein Lokalaugenschein in der Hauptstadt Buenos Aires.
Auf dem Antiquitätenmarkt
Diego Maradona – no, no, no!", protestiert der Taxilenker, als wir aufgrund beidseitiger sprachlicher Lücken die Unterhaltung mit Fußball retten wollen. Der habe sich mit seinen Affären aus dem Spiel gebracht. Reden wir besser über Messi.
Im Touristenviertel des alten Stadtteils La Boca, unweit des Stadions der Fußballhelden von Boca Juniors, haben die lebensgroßen Statuen von "Goldhändchen" Diego zwar noch nicht ausgedient. Außerdem müssen ja die vielen Trikots abverkauft werden. Aber als Star wird den Hunderttausenden von Besuchern jetzt der Papst präsentiert.
Eine sogenannte Papst-Tour, auf den Spuren des 2013, fast auf den Tag genau vor zwei Jahren (13. März) gekürten Jorge Mario Bergoglio, steht derzeit an erster Stelle der Ausflugsprogramme. Reiseführer Victor scheint froh zu sein, dass die ausländischen Gäste bloß auf den bescheidenen Spuren des großen Sohnes von Buenos Aires wandeln wollen und weniger an der schmerzvollen Geschichte interessiert sind.
Victor ist Universitätslehrer und sucht eine wissenschaftlich vertretbare Interpretation, mit südamerikanischer Weichzeichnung: "Als Kardinal von Buenos Aires hatte er eine komplizierte Beziehung zum Staat. Er war kein Kämpfer gegen die Diktatur. Er wollte apolitisch sein, und das war sehr schwierig." Das heutige Oberhaupt der katholischen Christenheit agierte schon räumlich in schwieriger Lage.
Die Kathedrale des Erzbischofs liegt am zentralen Platz, der Plaza de Mayo, schräg gegenüber dem Präsidentenpalast, Casa Rosada genannt. Rosarot waren und sind die Zeiten nicht. Rund 30.000 Gegner ließ Diktator Rafael Videla zwischen 1976 und 1983 ermorden, während er 1978 Gastgeber der Fußball-WM spielte und sich – nicht zuletzt dank Diego Maradona – als Staatspräsident des Weltmeisters feiern ließ. Papstkritiker sagen, der Oberhirte hätte hart gegen die Diktatur auftreten und die Tragödie verhindern müssen.
Kathedrale und Präsidentenpalast
Die Tour beginnt an der Hauptkirche im Stadtzentrum. Sie wird überragt von den Banktürmen, die nichts davon spüren lassen, dass Argentinien schon wieder ein Staatsbankrott droht. Außerdem kämpft "Frau K", die aktuelle Herrin in der Casa Rosada, gegen die eigene Justiz, von der sie wegen des mysteriösen Todes eines Staatsanwaltes und eines Anschlags auf die jüdische Gemeinde verfolgt wird. "K", das ist das Volkskürzel für die Präsidentin, deren Mann auch Vorgänger im Amt war: Christina Fernandez de Kirchner.
"Sie war schon drei Mal beim Papst in Rom", erzählt Victor. Sie wolle ein wenig vom Glanz des prominenten Bürgers abbekommen. Der verweigere aber einen Besuch in der alten Heimat, weil er auch heute nicht politisch eingespannt werden wolle. Im Herbst seien schließlich Wahlen.
Der Papstkult konzentriert sich in der 13-Millionen-Einwohner-Metropole offensichtlich auf die Touristenpfade. Die scheinen begeistert, manche Bewohner dagegen verschreckt. Der Besitzer des Zeitungsstands ergreift die Flucht, als er der Reisegruppe als jener Mann vorgestellt werden soll, der dem Heiligen Vater einst die Tageszeitungen gereicht habe. Auch der Frisiersalon des heutigen Papstes kann bewundert werden.
Wirklich sehenswert sind im Zentrum andere Dinge. Da ist der morbide Charme der alten Stadtviertel aus der spanischen Kolonialzeit, von San Telmo und La Boca. Alte Bausubstanz ist mangels Geld erhalten geblieben.
Auch in den Haushalten dürften alte Schätze liegen. Viele von ihnen werden auf einem ständig wachsenden Flohmarkt entlang der Avenida Defensa feil geboten. Jeden Sonntag gibt es hier zwischen Plaza de Mayo und Mercado de San Telmo an mehreren hundert Ständen Ramsch zu kaufen, aber auch echte Kostbarkeiten.
Und wo ist hier, bitte, die Hafenstadt Buenos Aires, in der vor 100 bis 150 Jahren pro Tag Hunderte Einwanderer angekommen sind? Deshalb wird ja heute nicht gesagt, woher die Argentinier abstammen, erzählt Victor: "Man sagt, wir sind von den Schiffen."
Die Prachtboulevards
Die liegen am Ufer des Rio de la Plata. Von hier aus wurden auch das Fleisch und das Getreide verschifft, die den Neubürgern Arbeit brachten – und einigen von ihnen sagenhaften Reichtum. Während die Europäer einander Vernichtungsschlachten lieferten, die Äcker verwüsteten und viele Bürger zur Auswanderung trieben, schickte Argentinien die Nahrung.
Aus dem Erlös entstand städtebaulich nach dem kolonialen Erbe der zweite historische Schatz: Die Neureichen ließen ab Ende des 19. Jahrhunderts nach Pariser Vorbild breite Boulevards anlegen und viele prächtige Großbürgerhäuser bauen, mit noblen Bars, Cafés, Restaurants. Wenn auch an manchen Gebäuden die Not vieler Wirtschaftskrisen nagt, so pulsiert hier das Herz der Metropole.
Der sündige Tanz
Zur Gründerzeit entwickelte sich in den Spelunken am Hafen ein sündiger Tanz, dessen Wurzeln angeblich auf der anderen Seite des hier mehr als 40 Kilometer breiten Rio de la Plata wuchsen, in Montevideo. Gleichwie: "Tango, das ist die vertonte Heimat", sagt Reiseführer Victor. Der Tanz verbindet all die Völker, die seit 150 Jahren eingewandert sind. Sie pflegen ihn bei den Milongas auf öffentlichen Plätzen ebenso wie in den vielen Bars. An einer Tangoshow kommt kein Tourist vorbei – und es lohnt sich. Victor pflegt Ironie und Machismo südamerikanischer Autoren: "Beim Tango müssen sich Frauen führen lassen können. Das wird immer schwieriger." Wie die meisten europäischen Argentinier fühlt er sich nur um des Gags willen vom Schiff kommend. Er ist stolz auf seine Wurzeln. Er sei Italiener, wie der Papst, erzählt er auf der Busfahrt zum zweiten Wallfahrtsort der Franziskus-Verehrung.
Autoverkehr in südamerikanischen Metropolen trägt Spannung in sich. "Ampeln zeigen nicht an, ob jetzt Halt ist oder freie Fahrt", sagt Victor: "Sie zeigen nur Tendenzen an." Die Menschen lieben hier feuriges Autofahren. Erinnern wir uns nur an den Formel-I-Meister Clay Regazzoni, einst bei Ferrari Teamkollege von Niki Lauda. Und auch ein zweiter Austriaco kommt ins Spiel mit Autos. In der Nähe gibt es eine VW-Fabrik, und Victor kennt den Ex-Chef und Ex-Bundeskanzler Viktor Klima von einem Uni-Projekt persönlich.
Die automobile Gesinnung drückt sich auch darin aus, dass die Bewohner stolz auf ihre Straße des 9. Juli verweisen: mit dem Lineal gezogen und mit 20 Fahrbahnen die breiteste der Welt. Ordnung ist dagegen sonst nicht so wichtig, sagt der Reiseführer: "Organisation ist hier ein Fremdwort. Gewesen. Immer noch."
Es geht nun zu den Stätten der Jugend, in den italienisch geprägten Stadtteil Flores. Hier gibt es die Don-Bosco-Kirche zu besichtigen, wo Il Papa getauft worden ist. Und San Jose de Flores, wo er als Sechzehnjähriger sein Versprechen an Gott abgegeben hat. Richtig belästigt wirken die wenigen Passanten, als sich der Reisebus durch die engen Straßen quält, wo der kleine Jorge gewohnt hat. An der Mauer des relativ modernen Hauses, das heute einer anderen Familie gehört, hat die Regierung eine kleine Papsttafel angebracht. Die neuen Eigentümer seien ziemlich verärgert, weil sie plötzlich ein Haus haben, das von Touristen beglotzt und zigtausendfach fotografiert wird, heißt es.
Buenos Aires hat viele schönere Plätze zu bieten. Schon allein die Namen der Stadtteile lassen es anklingen: Palermo, Recoleta, Retiro. Vom alten Monserrat reicht die Spanne bis zum mondän erneuerten Hafenviertel Puerto Madero. Fragen Sie Victor!