© Apa/Harald Schneider
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Erich Hackl: Alfredo, es geschieht nicht oft, dass jemand körperlich gesund und mit ungetrübtem Verstand in sein 10. Lebensjahrzehnt startet. Und außerdem sagen kann, dass sich so ziemlich alles in seinem Leben erfüllt hat.
Alfredo Bauer, geboren 1924 in Wien, ist einer der letzten noch lebenden Exilschriftsteller aus Wien. 1939 war er, als Vierzehnjähriger, mit seinen Eltern nach Argentinien geflüchtet. In Buenos Aires studierte er Medizin und arbeitete mehr als vierzig Jahre lang als Gynäkologe und Geburtshelfer, wurde Mitglied der Kommunistischen Partei Argentiniens und veröffentlichte einige Dutzend Romane, Erzählungen, Essays, aber auch Bücher landeskundlichen und sexologischen Inhalts. Bauer hat Werke Heines, Soyfers und Mitterers ins Spanische und das argentinische Nationalepos "Martín Fierro" von José Hernández ins Deutsche übersetzt, wurde in der DDR mit dem Jakob und Wilhelm Grimm Preis und in Österreich mit dem Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil ausgezeichnet.
Vor zwei Jahren ist seine fünfteilige Familiensaga "Los compañeros antepasados" unter dem Titel "Die Vorgänger" auf Deutsch erschienen, 2004/06 die ursprünglich ebenfalls auf Spanisch verfasste und heftig diskutierte "Kritische Geschichte der Juden". Heuer ist "Der sanfte Rebell. Bibelszenen" erschienen. Im November hat Alfredo Bauer seinen 90. Geburtstag begangen. Erich Hackl hat ihn in Buenos Aires besucht und mit ihm gesprochen.
Alfredo Bauer: Beinah. Ein reiches Leben war das. Ich denke viel darüber nach, ob Gerechtigkeit darin war. Es gibt da keine Gerechtigkeit. Andere haben ein solches Leben verdient und nicht gehabt. Ich hatte einen Kindheitsfreund, den Fritz Grünfeld. Wie Brüder waren wir. Nach dem deutschen Überfall, 1938, haben ihn seine Eltern mit einem Kindertransport nach England geschickt. Mein Vater hat das mit mir nicht gemacht, er hat gesagt: Wenn wir zugrundegehen, dann alle zusammen, wir lassen uns nicht auseinanderreißen. Schön. Jedenfalls ist mein Freund in England gelandet und durch ein verrücktes Wunder sind seine Eltern dann auch nach England gekommen. Dort ist er mit 35 an Krebs gestorben. Warum lebe ich mit 90? Wo ist da die Gerechtigkeit?
© Apa/Harald Schneider
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Die Dich kennen, rühmen Deinen Optimismus und die Hoffnung, die ihn beseelt, auf einen revolutionären Wandel der Verhältnisse. Wäre diese Hoffnung, würdest Du in Europa leben, für Dich ebenso spürbar wie hier in Lateinamerika?
Vermutlich nicht. Der Unterschied liegt allein darin, dass ich ein nützliches Leben drüben wahrscheinlich kaum gehabt hätte. Die ersten 15, 20 Jahre nach der Befreiung - falls ich sie überhaupt erlebt hätte - wären doch Provisorien gewesen. Wahrscheinlich hätte ich nicht einmal studieren können. Wer weiß, ob ich in Europa den Arztberuf ausüben hätte können.
Andererseits bist Du hier über Jahrzehnte zwei Berufen gleichzeitig nachgegangen. Hast Du Dir mehr Zeit zum Schreiben gewünscht? Oder war das Arztsein derart erfüllend, dass es die zeitliche Beschränkung des Schreibens aufgewogen hat?
Sooft ich Zeit zum Schreiben hatte, waren die Ideen da. Und sooft ich Ideen hatte, war auch Zeit zum Schreiben da. Begonnen hat es mit dem Tagebuch meines Urgroßvaters, der in Wien an der Revolution von 1848 teilgenommen hatte. Dieses Tagebuch ist erhalten geblieben. Eine Verwandte, Überlebende eines Vernichtungslagers, hat es mir gegeben, und mir war sofort klar: Darüber muss geschrieben werden - auf Spanisch, für die Argentinier. Die in Europa wissen das eh, dachte ich. Dann stellte sich heraus: Überhaupt nichts wissen sie darüber. Mein zweites Hauptwerk, wenn man das so sagen darf, war eine historische Untersuchung. Die "Kritische Geschichte der Juden".
Auch auf Spanisch geschrieben. Erst viel später ins Deutsche gebracht.
Weil mich meine Frau gestoßen hat: "Das muss es auf Deutsch geben." Wenn die Gerti nicht so gedrängt hätte, hätte ich es nicht übersetzt.
Ist Dein literarisches Werk hier in Argentinien oder in Europa mehr zur Kenntnis genommen worden?
Zu meiner Überraschung drüben. Und zwar nur in Österreich. In Deutschland kommt es überhaupt nicht an. Mit Ausnahme der Judengeschichte vielleicht. André Thiele, der ein feiner Mann ist und ein guter Verleger, hat einmal gesagt: "Der Bauer hat in Deutschland kein Publikum." Womit er nicht leugnet, dass der Bauer in Österreich eines hat. Aber auch erst, seit wir uns kennen. Da war ich immerhin schon über sechzig.
Dabei hattest Du ja schon früh ein politisches Umfeld, nicht nur in der DDR, wo die ersten beiden Romane Deiner Familiengeschichte erschienen sind, sondern auch bei Deinen Genossen in Österreich. Bist Du denn in diesen Kreisen nicht zur Kenntnis genommen worden?
Nein. Absolut nicht. Ich hab mich ja selber nicht zur Kenntnis genommen. Schreiben war mir irgendwie ein Hobby. Zu meiner Überraschung ist es dann mehr geworden.
Nochmals zu meiner ersten Frage: Jetzt sitze ich einem Menschen gegenüber, der auf ein erfülltes Leben zurückblicken kann - "zurückblicken" ist das falsche Wort, weil er noch mitten im Leben steht, einmal wöchentlich ein Radioprogramm hat, Bücher und Szenenfolgen schreibt, daran tüftelt, wie er trotz abnehmender Sehkraft weiterhin lesen und schreiben kann. Zwei glückliche Ehen, drei Kinder, ein Haufen Enkel, eine Urenkelin. Innige Freundschaften. Das Einzige, das nicht geklappt hat, war der Traum vom Sieg des Sozialismus. Das Gegenteil ist passiert - zu einem Zeitpunkt, an dem Du nicht mehr jung warst, an dem Dich die Niederlage der politischen Bewegung, der Du Dich verpflichtet fühlst, besonders schwer getroffen hat.
Das war für mich tatsächlich wie ein Zusammenbruch. Aber plötzlich war nicht nur die Hoffnung wieder da, sondern die Gewissheit, dieser Nation anzugehören. Das ist nie so konkret geworden in den ersten fünfzig Jahren meines Hierseins. Das war erst dann da.
Du beziehst Dich jetzt auf Argentinien und die politischen Ereignisse nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch kurz nach der Jahrhundertwende?
Auf die argentinische Nation und auf meine Zugehörigkeit zu ihr. Das war die große Überraschung. Aber nein - ich bin schon als Flüchtling gut aufgenommen worden. Man war freundlich. Es hätte nicht besser sein können. Vielen ist gar nicht eingefallen, dass man als Ankömmling nicht die gleichen Rechte haben könnte wie ein Eingesessener. Dagegen in Österreich - komm einmal als Türke dorthin!