Ein Gerichtsurteil schockiert Argentinien

Der Gerichtssekretärin stockte die Stimme am Dienstagabend, als sie die Urteile der 13 Angeklagten im Fall Marita Veron zu verkünden hatte. Die sechs Frauen und sieben Männer waren der Entführung und Begünstigung der Prostitution von den drei Richtern Alberto Piedrabuena, Emilio Herrera Molina und Eduardo Romero Lascano freigesprochen worden. Der Freispruch sorgt in Argentinien für grosses Entsetzen. Für einmal ist man sich im Land einig: Das Urteil ist ein Skandal und die Justiz hat kläglich versagt.

Der Fall Marita Veron hat im Jahr 2002 begonnen. Die damals 23-Jährige wohnte mit ihrer kleinen Tochter Micaela bei ihrer Mutter. Am 3. April verliess sie das Haus für einen Arzttermin und kam nie mehr zurück. Ihre verzweifelte Mutter suchte sofort nach ihr. Bald tauchten erste Augenzeugen auf, die behaupteten, gesehen zu haben, wie Marita in ein rotes Auto gedrängt worden war. Die Polizei der Stadt San Miguel de Tucuman, im Norden des Landes, weigerte sich jedoch die Anzeige aufzunehmen. Ihre Tochter sei womöglich mit einem Freund abgehauen, sagten die Polizisten zu Susana Trimarco.

Drei Tage später griff eine Patrouille die junge Frau 30 Kilometer von ihrem Zuhause entfernt auf. Stark geschminkt und mit Stöckelschuhen erklärte Marita Veron den Beamten, dass sie auf der Flucht von einer Sex-Orgie sei, zu der man sie gezwungen habe. Die Polizisten setzten sie in einen Bus zurück nach Tucuman. Dort kam Marita jedoch nie an.

Es ist ein internationaler Frauenhändlerring

Bald war für Mutter Susana Trimarco klar: Ihre Tochter war von einem Frauenhändlerring entführt worden. «Ich wusste damals nicht einmal, dass es so etwas gibt», sagte Trimarco während des zehnmonatigen Prozesses, der im Februar 2012 begonnen hatte. Erneut wandte sich Trimarco an die Polizei. Da die Ermittlungen nicht vorankamen, suchte Trimarco, die nun ihre Enkelin Micaela alleine grosszuziehen hatte, Unterstützung bei den lokalen Politikern. Diese versprachen, alles zu tun, um Marita zu finden. «Wie dumm war ich, als ich ihnen glaubte. Jetzt weiss ich, dass sie alle in den Fall verwickelt sind», sagte Trimarco Jahre später vor Gericht.

Die lahmen Ermittlungen der Behörden veranlassten Trimarco die Suche selbst in die Hand zu nehmen: Sie liess sich als Prostituierte anstellen und arbeitete in verschiedenen Bordellen der Stadt. In ruhigen Augenblicken versuchte Trimarco das Vertrauen der anderen Mädchen zu gewinnen. Sie fragte nach Marita und zeigte den anderen Prostituierten ein Bild ihrer Tochter. Im «Candy» habe Marita eine kurze Zeit lang gearbeitet, erzählte ihr eines der Mädchen. Sie habe blondierte Haare gehabt und blaue Kontaklinsen. Danach sei sie wieder verschwunden.

Die Spur führte in die angrenzende Provinz La Rioja. Auch dort traf Trimarco eine junge Arbeitskollegin, die Marita gesehen hatte. Doch Trimarco flog auf und wurde des Etablissements verwiesen. Der zuständige Geschäftsführer höhnte: «Die blöde Kuh sucht nach ihrer Tochter hier bei uns, dabei ist die schon lange in Spanien.»

1300 Frauen befreit, nur Marita nicht

Für Susana Trimarco gestalteten sich die Ermittlungen auf eigene Faust sehr schwierig. Sie hatte in ein Wespennest gestochen und wusste nicht mehr, wem sie trauen konnte. In ihrer Verzweiflung schrieb sie dem damaligen Präsidenten Nestor Kirchner einen Brief. Dieser reagierte sofort und empfing Trimarco in Buenos Aires. Trimarco erzählte, was sie entdeckt hatte: In ihrer Provinz würden Mädchen entführt und zur Prostitution gezwungen. Sie selbst habe mehrere junge Frauen aus der Gefangenschaft gerettet. Dank der Information, die Trimarco weitergeleitet hatte, konnten bei einer Razzia gegen einen Pornoring in Spanien zudem 600 Frauen befreit werden, darunter 17 Argentinierinnen, die gegen ihren Willen nach Europa verfrachtet worden waren.

Die Mutter von Marita Veron hatte sich inzwischen zum landesweit bekannten Symbol des Kampfes gegen den Frauenhandel gemausert. 2007 gründete sie die Stiftung «Maria de los Angeles» - der komplette Vorname ihrer Tochter. Im Jahr 2008 brachte Trimarcos Kampagne gegen den Frauenhandel einen Erfolg auf politischer Ebene: Im April wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Frauenhandel offiziell als ein Verbrechen einstuft, das mit drei bis 15 Jahren Haft bestraft werden kann. Im Jahr 2011 wurde Susana Trimarco für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Auf der Suche nach Marita hat ihre Organisation inzwischen über 1300 entführte Mädchen befreit.

Der Kampf geht weiter

Das Urteil vom Dienstag hat Susana Trimarco schwer getroffen: «Ich werde nicht aufgeben. Morgen beginnt eine neue Phase und ich werde nicht ruhen, bis die drei Richter selbst vor Gericht stehen und alle Beteiligten ins Gefängnis kommen. Ich bin überzeugt, dass sie Geld von der Prostitutionsmafia bekommen haben. Die sind alle korrupt», sagte sie kämpferisch nach der Bekanntgabe der Freisprüche. Ihre Tochter werde sie finden, koste es, was es wolle.

Die inzwischen 13-jährige Micaela und viele der befreiten Mädchen, die die Urteilsverkündung im Fernsehen verfolgten, brachen danach in Tränen aus. «Es gibt keine Gerechtigkeit in diesem Land», meinten sie unisono. Auf sozialen Netzwerken ist für Mittwochabend zu einer Massendemo aufgerufen worden.

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