Manchen der Figuren platzt spontan der Kragen. Andere setzen eine lang geplante Rache ins Werk. Immer kippt in „Wild Tales“ der Alltag in den Wahnsinn um. Ein Film, wie ihn der junge Tarantino nicht besser hätte liefern können.
Stuttgart - Eine Braut, die sich auf ihrer eigenen Hochzeitsfeier an ihrem untreuen Ehegatten rächt, ein Yuppie, der sich auf der Landstraße mit dem Falschen anlegt, eine Kellnerin, die einen ungeliebten Gast mit Rattengift um die Ecke bringt: „Wild Tales“ erzählt in mehreren Episoden von der absoluten Eskalation – und zwar in ihren schwärzesten Varianten. Konsequent inszeniert der argentinische Newcomer Damian Szifron in seinem zweiten Spielfilm also die dunkelsten Rachefantasien seiner Figuren. Damit hat er nicht nur eine der bitterbösesten, sondern auch eine der überraschendsten Komödien der jüngsten Zeit geschaffen.
In sechs voneinander unabhängigen Geschichten gehen Szifrons Protagonisten auf wunderbar skurrile Weise an die Decke, und das in Situationen, die einem als Zuschauer aus dem eigenen Alltag nur allzu bekannt vorkommen. Da wird das Auto fälschlicherweise abgeschleppt, da nervt der Drängler auf der Straße, da hat der durchtriebene Anwalt eine Abreibung verdient. Doch während man sich als Normalsterblicher allenfalls zu einem gemurmelten „Vollidiot“ und bedeutungsschweren Augenverdrehen versteigen darf, lässt Szifron es so glanzvoll krachen, dass „Wild Tales“ – im Original „Relatos savajes“ – für alle, die schon lange heimliche Rachegelüste gegen die Menschheit hegen, zum diabolischen Vergnügen wird.
Was der bürokratische Wahnsinn aus uns macht
Zugegeben: die Figuren handeln dabei immer wieder moralisch höchst fragwürdig – doch man sympathisiert trotzdem mit ihnen. Und es kommt noch schlimmer: Irgendwie erkennt man sich selbst wieder in diesen anarchischen Amokläufern, die in ihrer verzweifelten Wut auf die Gesellschaft gleichzeitig beängstigend und hinreißend komisch wirken.
Ihre Geschichten, allesamt vom Regisseur selbst verfasst, werden zwar manchmal surreal, sind bei allen Überspitztheiten jedoch keineswegs zu weit hergeholt. Denn hinter den Wut- und Gewaltausbrüchen steckt vor allem die tiefsitzende Frustration über eine Gesellschaft, in der Korruption, Ungerechtigkeit und bürokratischer Wahnsinn zur Kehrseite der artig aufrechterhaltenen Zivilisation werden. Und dieses Weltbild setzt Damian Szifron auf beeindruckend originelle Art und Weise in Szene. Die Episode „Pasternak“ ist dabei ein genialer Opener, der in Tempo und Konzeption kaum mehr zu überbieten sein dürfte.
Kennen Sie Pasternak?
Ein Fotomodell entdeckt während eines Langstreckenflugs, dass sie und der alternde Musikkritiker im Nebensitz mehr gemeinsam haben als zunächst angenommen. Beide verbindet nämlich die Bekanntschaft mit dem erfolglosen Musiker Pasternak. Und beides Mal nahm diese Bekanntschaft für ihn kein gutes Ende. Sie servierte Pasternak für einen anderen ab, er zerriss öffentlich seine Kompositionen. In einer unheilvollen und großartig inszenierten Kettenreaktion stellt sich dabei alsbald heraus, dass nicht nur das Modell und der Kritiker, sondern sämtliche Passagiere eine Rechnung mit dem ominösen Pasternak offen haben. Besser gesagt: er mit ihnen. Und man ahnt, dass weiteres Unheil dräut.
Dieses Szenario ist nicht nur herrlich schräg, sondern schafft durch seine Konzeption auch eine wunderbare Ambivalenz: In seiner Kompromisslosigkeit ist „Pasternak“ lustig und beängstigend zugleich – und beinahe zu schön, um wahr zu sein.
Glücklicherweise entpuppte sich Szifrons Hommage an die ungebändigte Zügellosigkeit nicht nur als Überraschungshit auf den Festivals der vergangenen Saison. Auch das heimische Publikum zeigte sich begeistert von so viel skurriler Gesellschaftskritik. Mit seiner Mischung aus Alltagsfrust und absurdem Gewaltvergnügen kletterte „Wild Tales“ in Argentinien mühelos an die Spitze der Liste der erfolgreichsten Filme des Jahres 2014.
Freude am Kontrollverlust
Während viele solcher Meisterstücke jedoch die Grenzen ihrer Heimatländer allenfalls als Spartenfilm überschreiten, die nur in ein paar Nischenkinos laufen, erregt Damian Szifrons schwarze Komödie auch international Aufmerksamkeit. Und das wohl nicht nur, weil Pedro Almodóvar als Koproduzent fungiert. Als einer der zehn besten Filme des Jahres taucht „Wild Tales“ im Ranking des „Time Magazine“ auf – und mittlerweile steht er auch im Rennen um den Auslands-Oscar.
Fast zwangsläufig sucht man bei so viel Lob nach Schwachstellen dieser Untergangssinfonie. Fündig wird man dabei aber nicht. Szifron hat eine beinahe perfide Freude am absoluten Kontrollverlust seiner Figuren und zelebriert deren Ausbruch aus dem Käfig westlicher Sozialnormen mit konzeptioneller Brillanz, hohem Tempo und einem Hang zum Blutvergießen, der an Quentin Tarantino zu seinen besten Zeiten erinnert. Dennoch suhlt Szifron sich nicht in den teils makabren Racheakten. Irgendwie ist da zwischen all dem Niedergang auch ein Appell ans Leben präsent: Ja zur Leidenschaft, Ja zur Eskalation.
Wild Tales – Jeder dreht mal durch. Argentinien, Spanien 2014. Regie: Damian Szifron. Mit Ricardo Darin, Dario Grandinetti, Érica Rivas, Rita Cortese, Leonardo Sbaraglia, Oscar Martinez. 122 Minuten. Ab 12 Jahren.