Wieder ein strahlender Spätsommertag in Buenos Aires. Die Stadt erwachte am Freitag unter dem gleichen sanften Licht und der gleichen frischen Brise vom Rio de la Plata wie am 22. Februar 2012 – wie vor einem Jahr, und wie damals und an jedem Werktag pendelten zwei Millionen Menschen in Argentiniens Hauptstadt. Wer sich's leisten kann, nimmt das Auto, Ärmeren bleibt nur der Zug.
Auf dem Bahnhof Once, einem der fünf Kopfbahnhöfe, sind Hunderte zum Gleis 2 gekommen: Angehörige der 51 Toten von Argentiniens größtem Zugsunglück vor einem Jahr. Mehr als 700 Personen sind verletzt worden. Die Leute trugen Transparente, die „Gerechtigkeit“ forderten, legten Blumen nieder und um 8.32 Uhr, genau ein Jahr, nachdem Zug Nr. 3772 ungebremst in den Prellbock gerast war, schrie eine Sirene. Dann fuhr ein Vorortezug ein und hunderte Pendler stiegen aus, froh, heil angekommen zu sein. Denn auch die Züge sind so veraltet, überfüllt und gefährlich wie vor einem Jahr.
„Ein angekündigtes Verbrechen“
Viele Argentinier wollen die Katastrophe nicht als „Unfall“ sehen: „Das war kein Schicksalsschlag“, sagte Schauspieler Manuel Callau, „das war ein lange angekündigtes, soziales Verbrechen!“ Worte, denen alle zustimmen, die während der vergangenen zehn Jahre mit der Eisenbahn in Kontakt kamen – und sei es nur an einer der veralteten Bahnschranken, die so jämmerlich funktionieren, dass fast täglich ein Mensch auf den teilweise 100 Jahre alten Gleisen stirbt.
Der Unglückszug, gebaut in den 1950ern, hätte seit 20 Jahren ausgemustert sein sollen, von seinen acht Triebwagen waren nur fünf mit Bremszylindern bestückt, die schlecht funktionierten. Von vier Notbremssystemen, die der Zug anfänglich hatte, waren drei inaktiv, der Tachometer war ausgebaut. Und der hydraulische Prellbock auf dem Bahnhof war mangels Wartung hart wie eine Betonwand. In dem für 800 Menschen zugelassenen Zug waren 2000 Personen, die einander zerquetschten, als der Zug mit etwa 20 km/h dagegenkrachte und sich zusammenfaltete wie eine Ziehharmonika.
Nach der Katastrophe sprach die Präsidentin Beileidsworte und verschwand für sechs Tage in ihren Urlaubsort. Am Vorabend des Jahrestags schickte Cristina Fernández de Kirchner eine „solidarische Umarmung“ an Hinterbliebene und Überlebende. „So ist das Leben, Freude und Trauer, manchmal gibt es schwere Momente, aber man muss nach vorn blicken.“
Niemand wundert, dass sie nur in die Zukunft sehen will, denn eine Rückschau auf die ersten zehn Jahre der Regentschaft Kirchner ist ein Panoptikum von Vetternwirtschaft, Gier und politischem Zynismus. Denn es ist nicht so, dass Argentiniens Bahnen keine Mittel hätten: Seit dem Amtsantritt von Néstor Kirchner 2003 hat der Staat etwa vier Milliarden Dollar an die privaten Bahnen überwiesen, für neue Züge und Reparatur der Infrastruktur. Jahr für Jahr kassierten sie hunderte Millionen Subventionen für die Gehälter.
Je mehr Geld, desto schlimmer
Aber: „Je mehr Mittel flossen, desto erbärmlicher wurde der Betrieb“, so der nationale Ombudsmann Leonardo Dupuy, der vergebens auf Mängel gezeigt hatte. Die Regierung ließ stattdessen mutige Gewerkschaftler drangsalieren, die Missstände anzeigten. Die Bosse der großen Bahngewerkschaften waren Teil des zynischen Verteilungsschemas, das vor allem die Ärmeren traf, also jene, deren Schutz angeblich oberstes Ziel jeder peronistischen Regierung ist.
Zentrale Figur war offenbar der Staatssekretär für Verkehr, Ricardo Jaime. Der Funktionär, gegen den Korruptionsprozesse laufen, stieg binnen fünf Jahren vom kleinen Beamten zum Besitzer von Villen und Rennbooten auf. Ein Bahnunternehmer erklärte, dass der Staatssekretär von ihm gefordert habe, die Hälfte der Fördermittel unterm Tisch zurückzusenden. Sonst gebe es gar kein Geld.
Jaime zählt wie sein Nachfolger Juan Schiavi zu den 28 Leuten, die ob des Unglücks angeklagt sind, mit Gewerkschaftern und Vertretern des „Grupo Cirigliano“, der unter Kirchners zum größten Transportkonzern wurde. Doch unter ihnen sind weder dessen Boss noch Infrastrukturminister Julio de Vido: Er war jahrzehntelang Freund von Néstor Kirchner, solange dessen Frau herrscht, muss er kein Gericht fürchten.
Mord am Hauptzeugen
Die Angehörigen der Opfer wollen nicht aufgeben in ihrem Kampf für Gerechtigkeit. Sie wissen, dass der Prozess frühestens im Oktober beginnen wird, müssen rechnen, auf Entschädigung viele Jahre warten zu müssen. Sie wissen, dass ihre Klage aufs Herz des Systems zielt. Vor zwei Wochen wurde der wichtigste Zeuge des Verfahrens ermordet: Den Zugführer, der seine Maschine eine halbe Stunde vor dem Unfall übergeben hatte, trafen zwei Projektile von hinten. Die Mörder ließen seine Geldbörse stecken.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2013)