Was würden wir bloß ohne
Sonia machen. Wir verbringen die Herbstferien in Argentinien und haben schon viele tolle Bekanntschaften gemacht, aber die wunderbarste ist Sonia. Sie ist
immer da, wenn wir in das Apartment kommen, das wir über Airbnb in San Telmo gefunden haben, dem ältesten Stadtteil von Buenos
Aires. Wir zeigen Sonia abends unsere Fotos und können sie alles fragen. Vor dem Schlafengehen spielt sie den
Kindern einen Film vor. Sie ist nicht die Schnellste, nicht die Jüngste und etwas störrisch, sie verlässt den hinteren Teil der
Wohnung kaum. Aber während
ich am Küchentisch sitze
und schreibe, liegt sie auf dem Fernseher, blinkt beruhigend und ich weiß, die Welt ist in Ordnung.
Sonia ist unser WLAN.
Es ist mir vollkommen
schleierhaft, wie Menschen reisen konnten, bevor es das
Internet gab. Ich habe das zwar selbst vor nicht allzu langer Zeit gemacht – Fahrradtouren durch Frankreich, Wanderurlaube in
Schottland, Recherchereisen in Afghanistan, echte Abenteuer, ganz analog. Aber
da war ich alleine unterwegs. Für
uns als Patchwork-Familie ist es die erste große Auslandsreise mit allen drei Kindern. Der Gedanke, wir säßen am anderen Ende der Welt,
ohne Spanisch zu können,
und hätten nur einen
Reiseführer zur Hand, jagt
mir ziemliche Angst ein. Alles wäre so
viel umständlicher.
Vor der Abreise schicke ich mir wie
gewohnt die E-Mails mit allen wichtigen Daten wie Flugnummer, Telefonnummer der
Vermieterin und Adresse der Wohnung gebündelt
aufs Handy. Zur Sicherheit notiere ich mir alles noch mal auf einem Zettel – für
den Fall, dass den Telefonen und Laptops auf der 20-stündigen Anreise, die mit Filmen und Daddeln überbrückt werden will, der Strom ausgeht. Was natürlich prompt passiert. Komisch,
dass es auf Intercontinentalflügen
kein offenes WLAN gibt und nicht am jedem Platz eine Steckdose, wundert sich
der Sechzehnjährige, als
wir mit leeren Akkus am Flughafen in Buenos Aires stehen. In die Straße Humberto Primo finden wir
trotzdem, dem Schmierzettel sei Dank.
In unserer Wohnung gibt es beides, Strom
und Internet, und unsere WLAN-Fee Sonia hilft uns dabei, uns zurecht zu finden.
In unserem Viertel und in diesem Land. Meine kroatische Tante lebt zwar mit ihrer
Familie hier, aber wir wollen sie nicht wegen jeder Kleinigkeit anrufen. Wir
recherchieren unsere Exkursionen nach Puerto Madero, Palermo und zum Friedhof
von Recolata, wann und zu welchem Preis die Fähre nach Uruguay fährt
und wie das Wetter wird. Wir finden auf Tripadvisor Geheimtipps für Touren ins Flussdelta des Rio
Parana und ein vielgelobtes BedBreakfast für unseren Abstecher zu den Wasserfällen von Iguazú, wo wir direkt per E-Mail Zimmer buchen.
Haben Eltern all das früher
wirklich komplett vor der Reise vorbereitet? Irre.
Sonia erlaubt es uns auch, fern der
Heimat mit unserem normalen Leben weiterzumachen. Unser Berliner Alltag
wird argentinisch. Wir Erwachsenen beantworten wenige wichtige E-Mails
und wissen, dass wir den Rest guten Gewissens ignorieren können. Unsere Freunde
kommentieren unsere Fotos auf Facebook und fragen, ob wir ihnen aus der
Markthalle von San Telmo bitte noch eine der E.T.-Figuren mitbringen können, die sie dort verkaufen.
Unsere beiden großen
Patchwork-Kinder facetimen alle paar Tage mit den anderen Elternteilen, das
mittlere Kind sucht sich für
eine Ferienhausaufgabe Informationen über
Aale zusammen. An einem Abend schaut die Frau im Bett den Tatort in
der ARD-Mediathek. Und nach einem langen Ausflug fragt mich der Kleine:
"Fahren wir jetzt wieder nach Hause? Nach Boris Eires? Ich will den Dinosaurier-Film
gucken." Wir fühlen
uns angekommen.
Aufregend bleibt so eine Reise natürlich auch, schließlich kann uns Sonia auf unseren
Streifzügen nicht
begleiten. Mobiles Netz würde
uns ein Vermögen kosten.
Vieles, was wir vorher recherchiert haben, sieht in der Realität anders aus. Wegen der Präsidentschaftswahlen ändert sich der offizielle
Pesos-Kurs nahezu täglich,
die Kurse auf dem Schwarzmarkt weichen absurd davon ab. Überhaupt ist in Gelddingen in Argentinien alles sehr im
Fluss. Eigentlich kostet nichts so viel wie erwartet. Darauf muss man sich
einlassen.
Immer wieder verlaufen wir uns, weil
unsere Karte nicht nach Norden ausgerichtet ist und wir uns nicht mehr sicher sind, wo die Sonne steht.
Da kommt selbst die im Kartenlesen erfahrene Frau durcheinander. Als wir an der
U-Bahn-Station Palermo aussteigen, sehen wir vom vermeintlich hippen
Szeneviertel nur eine Schnellstraße
und Wohntürme, die mich an
den Film Blade Runner erinnern. Der Weg zum Park ist viel weiter
und öder, als er daheim
auf Google Streetview aussah, der Kleine will getragen werden, der Rest
meutert. Die Rettung: ausgerechnet ein McDonalds. Um die Laune zu retten,
besorge ich Pommes, bestelle mit Händen
und Füßen, ich hatte
vorher nur Eis (Helado) und Fleisch (Carne)
nachgeschlagen. Pommes heißen
hier also Papas, das vergesse ich nicht mehr. Die Kinder auch
nicht.
Solche Erfahrungen des Verlorenseins gehören zum Wesen des Reisens.
Leider sind wir für diesen
poetischen Gedanken nicht immer offen. Aber wir wachsen an unseren Krisen. Auf
der Überfahrt über den Rio de la Plata nach
Uruguay spielen die Großen
Nintendo 3DS, statt aus dem Fenster zu schauen. Das weite braune Wasser ist
keine Sensation, mag sein, ich spüre
trotzdem Ärger aufsteigen – und bin später wieder versöhnt, als die Jungs zusammen mit
wilden Hunden über die
Felsen am Strand von Colonia springen.
Reisen, das sind immer auch Momente des
unerwarteten Glückens. Auf
dem Weg ins Flussdelta ist die Frau sauer auf mich, weil ich Fernando von
Safari Delta, über den im
Internet alle schwärmen,
vorher keine E-Mail über
Sonia geschickt habe. Am Bahnhof von Tigre begegnen wir einem Mann, der uns
unglaublich freundlich alles über
das Delta erklärt – und den ich nach zehn Minuten
frage, ob er Fernando ist. Er ist es. "Kanntest du den?" fragt mich
der Große, als wir zu den
Busbooten laufen. "Das ist ein Internetstar", sage ich, das Kind ist
beeindruckt.
Als wir uns zum Mittagessen mit meiner
Tante, meinem Onkel und meinen Cousins treffen, tun sich die Kinder anfangs
etwas schwer. Sie haben keine gemeinsame Sprache mit den Kindern meines
Cousins. Doch als der siebenjährige
Agustin ein iPad herausholt und Minecraft darauf spielt, ist das
Eis gebrochen und unsere Jungs geben ihm Tipps. Nach dem Essen rennen sie alle über einen Spielplatz, springen über Betonmauern, teilen sich
Colas und lachen. Dafür
brauchen sie keine Sonia und keinen Google-Übersetzer, nur sich.
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