Der verlorene Enkel ist zurück – Freitag

„Hier hat sich ganz Argentinien ausgeweint“, sagt Ignacio Montoya Carlotto und klopft auf seine rechte Schulter. Der 36 Jahre alte Musiker mit den vorzeitig ergrauten Locken lächelt zwar bei diesen Worten, übertreibt aber keineswegs. Wir gehen durch die alten, mit Kopfsteinpflaster bedeckten Straßen von San Telmo in der Altstadt von Buenos Aires. Es ist für Ignacio kaum möglich, nur einen Block weit zu flanieren, ohne dass jemand auf ihn zugeht, um ihn zu umarmen und in Tränen auszubrechen. Die kollektiven Emotionen werden verständlich, wenn man weiß, dass dank seiner Großmutter ganz Argentinien über 30 Jahre lang dafür gebetet hat, dass er endlich „gefunden“ wird.

„Als ich 80 wurde, habe ich Gott angefleht, er möge mich nicht sterben lassen, bevor ich meinen Enkel gefunden habe“, erzählt Ignacios Großmutter Estela Carlotto. Die heute 84-Jährige hat ein außergewöhnliches Leben geführt, das sie zu einer der angesehensten öffentlichen Personen Argentiniens werden ließ. Sie war eine 47 Jahre alte Lehrerin und dreifache Mutter, als im November 1977 eine Todesschwadron der Militärjunta, die von 1976 bis 1983 das Land mit eiserner Hand regierte, ihre Tochter Laura im 50 Kilometer südlich von Buenos Aires gelegenen La Plata kidnappte. Wie Tausende andere auch ließ das faschistische Regime die 22-jährige Aktivistin später „verschwinden“ – das heißt, sie wurde ermordet. Was Estela nicht wusste – die Tochter war im dritten Monat schwanger, als sie verschleppt wurde. Laura kam in das Internierungslager La Cacha, wurde gefoltert und musste mit ansehen, wie der Vater ihres Kindes, der 26 Jahre alte Walmir Montoya, getötet wurde.

Glückliche Kindheit

Ignacio kam Anfang Juni 1978 zur Welt. In einem Bericht des Lagerkommandos von La Cacha ist vermerkt, dass seine Mutter bei der Geburt Handschellen tragen musste und nur fünf Stunden mit ihrem Sohn zusammenbleiben durfte. Zwei Monate später zerrte man sie aus dem Lager, inszenierte eine bewaffnete Konfrontation und schlug sie tot. Als Estela Carlotto der Leichnam ihrer Tochter übergeben wurde, war deren Gesicht – vermutlich mit einem Gewehrkolben zerschlagen – kaum mehr zu erkennen. Internierte, die das Lager überlebt haben, erzählten Estela später von der Geburt. Sie erfuhr, dass Laura den Sohn Guido nennen wollte.

Die folgenden mehr als dreieinhalb Jahrzehnte suchte Estela nach ihrem Enkel, über den sie außer dem ungefähren Geburtsdatum nichts wusste. Sie musste gegen Polizisten, Armeeoffiziere und Ärzte prozessieren, die Ende der 70er Jahre daran beteiligt waren, wenn die Identität der Kinder von Ermordeten verändert wurde. Estela stieß stets von Neuem auf eine Mauer des Schweigens, die viele Verbrechen des Regimes bis heute umgibt. Als sie begriff, dass andere Mütter ebenfalls nach den Kindern ihrer „verschwundenen“ Töchter suchten, gründeten sie die Gruppe der „Abuelas de Plaza de Mayo“, benannt nach dem Platz vor dem Präsidentenpalast in Buenos Aires, auf dem sie fortan vereint demonstrierten. 1989 wurde Estela die Präsidentin dieser Schicksalsgemeinschaft.

Die Gruppe ging von gut 500 in Gefangenschaft geborenen Kinder aus. Diese wurden zumeist Familien von Militärs übergeben, die sie dann als eigene Kinder ausgeben durften. Nach Auffassung der in der Regel katholischen Obristen wäre es unchristlich gewesen, ein ungeborenes Kind zu töten, indem man seine schwangere Mutter exekutierte. Dass die Kinder dann in „anständige Familien“ kamen, galt der Junta als ultimativer Sieg über gottlose Linke.

Nach dem Sturz der Junta 1983 gelang es den teils hochbetagten Großmüttern, bis Ende 2014 113 Fälle aufzuklären. Nicht aber den von Estela Carlottos Enkel. Sie hatte vielen ihrer Leidensgenossinnen helfen können und war für den Friedensnobelpreis im Gespräch, aber den Sohn ihrer toten Tochter zu finden blieb ihr verwehrt.

In jener Zeit lebte Ignacio in dem Glauben, er sei der einzige Sohn von Juana und Clemente Hurban, einfachen Landarbeitern, die in Olavarría auf dem Hof des 2014 verstorbenen Großgrundbesitzers Francisco Aguilar lebten.

„Vor ein paar Jahren saß ich mit meiner Frau vor dem Fernseher und sah Estela, wie sie über die Suche nach ihrem Enkelkind sprach“, erzählt Ignacio. „Ich sagte: Sieh dir diese arme Frau an. Es zerreißt einem das Herz – ihr ganzes Leben lang hat sie nach ihrem Enkel gesucht und wird ihn vielleicht niemals finden‘.“ Er habe eine goldene Kindheit gehabt, berichtet Ignacio weiter. In der Abgeschiedenheit des Hofes, umgeben von Tieren und umsorgt von den Menschen, die er noch immer liebevoll Mutter und Vater nennt, las er viel, schloss mit großem Erfolg die Schule ab, studierte in Buenos Aires Musik und kam wieder nach Olavarría zurück, um als Musiklehrer und Musiker mit einer eigenen Band – der Ignacio Hurban Grupo – zu arbeiten. „Für mich lief alles wie in einem Bilderbuch. Ich spielte mit großartigen Musikern Alben ein, konnte mir einen nagelneuen Wagen leisten und dachte mit meiner Frau darüber nach, eine Familie zu gründen.“ In dieser ländlichen Gegend, über 300 Kilometer von Buenos Aires entfernt, sei es für sie wohl ausgeschlossen gewesen, den Enkel zu finden, räumt Estela ein.

Am 2. Juni 2014 jedoch, dem Tag, an dem Ignacio Hurban immer seinen Geburtstag feierte, erhielt seine Frau Besuch von Celia Lizaso, Tochter eines Bauern, der eng mit dem Großgrundbesitzer Aguilar befreundet war. Ignacio erinnert sich: „Sie erzählte, dass ich adoptiert sei, doch war das nur die halbe Wahrheit. Sie verschwieg, dass ich das Kind eines Paares war, das unter der Junta ermordet wurde. Auf jeden Fall aber erfuhr ich, dass die Hurbans meine Adoptiveltern waren. Weil sie selbst keine Kinder bekommen konnten, brachte ihnen Aguilar einen Jungen, dessen Mutter ihn angeblich nicht wollte, was damals durchaus nichts Ungewöhnliches war. Die Hurbans schöpften nie Verdacht und vertrauten ihrem Chef blind. Er war für sie wie ein Gott: Sie lebten auf seinem Land – das sagt alles.“

Ignacio ist von der Unschuld und den guten Absichten seiner Adoptiveltern überzeugt. „Mir ist klar, welche Opfer sie gebracht haben, um mich großzuziehen, und ich empfinde ihnen gegenüber nichts als Dankbarkeit. Man hat sie hereingelegt und dazu gebracht, Papiere zu unterschreiben, auf denen die Unwahrheit stand.“

Während der jahrzehntelangen Suche sind bereits einige der „Abuelas de Plaza de Mayo“ verstorben und für jene, die immer noch kämpfen, tickt die Uhr stetig schneller. Auch Estela ist mittlerweile 84 Jahre alt.

Mission erfüllt

Wegen Hunderter noch nicht gefundener Enkel haben die Frauen eine DNS-Datenbank angelegt, um zu garantieren, dass sich jeder, den der Verdacht beschleicht, ein „vermisster Enkel“ zu sein, notfalls Gewissheit verschaffen kann. Ignacio überlegte lange hin und her, aber schließlich entschloss er sich, bei den „Abuelas de Plaza de Mayo“ einen DNS-Abgleich machen zu lassen, der ergab, dass er der Sohn von Laura wie der ihres ebenfalls ermordeten Freundes Walmir Montoya war.

Möglich wurde das auch deshalb, weil 2006 forensische Anthropologen in einem Massengrab Montoyas Gebeine und damit DNS-Material gefunden hatten. Sie stellten fest, dass er wahrscheinlich mit einer Maschinenpistole erschossen worden war. Bis dahin wusste niemand, dass er Vater eines Kindes war, am wenigsten seine heute 91 Jahre alte Mutter, Hortensia Montoya. Sie erhielt einen Anruf, als die Ergebnisse des DNS-Abgleichs feststanden. „Gott hat mir ein langes Leben geschenkt, damit ich noch meinem Enkel begegnen konnte“, erklärte Hortensia damals, die in ihrem Heimatort Caleta Olivia als Lehrerin Pionierarbeit geleistet hatte.

Ignacio erinnert sich: „Als es keinen Zweifel mehr an meiner Herkunft gab, wollte ich zunächst Bedenkzeit haben, doch dann wurde mir klar, dass diese Leute schon über 30 Jahre darauf gewartet hatten, mich zu sehen. Und dass ich sie deshalb keinen Tag länger warten lassen durfte.“ Also fuhr er zusammen mit seiner Frau und ein paar Freunden nach La Plata, um die Carlottos zu treffen und eine Art Kulturschock zu erleben. Das Einzelkind, das auf einem abgelegenen Hof aufgewachsen war, traf auf Estelas Großfamilie, ihre 13 anderen Enkel, seine Cousins, Tanten und Onkel, die alle gespannt auf ihn warteten. „Alle sahen mich an und konnten es nicht fassen – ,Das gibt es nicht, das ist er!‘ Alle weinten, umarmten mich, ließen ihren Gefühlen freien Lauf.“

Nach 36 Jahren hat Carlotto auch ihren Enkel Ignacio (36) gefunden, der heute Musiker ist

Foto: AFP/Getty Images

Ein paar Tage später traf dann auch Hortensia Montoya ein, und die beiden Großmütter schlossen sich und ihren Enkel in die Arme. „Meine beiden Großmütter zu treffen, war äußerst bewegend“, erzählt Ignacio, „es war wie ein Schlag: ‚Hier sind wir, wir haben es geschafft, wir haben gewonnen.‘ Wenn diese beiden Frauen aufeinandertreffen erzittert die Erde. Es berührte, wie sie über ihre Kinder sprachen und trotz ihres grausamen Schicksals vor Freude weinten ...“ Sosehr Ignacio sie auch lieb gewonnen hat – den einen Wunsch seiner Großmutter Estela konnte und wollte er nicht erfüllen. Für Estela war er immer Guido, nach dem sie 36 Jahre lang gesucht hatte. Sie bat ihn, den Namen anzunehmen, den seine Mutter für ihn vorgesehen hatte. „Es schmerzte mich, als er mir erklärte, er wolle seinen Namen nicht ändern“, erzählt Estela mit belegter Stimme. „Aber ich akzeptiere es natürlich – nach dieser Explosion in seinem Leben!“

Ignacio Hurban hat sich mittlerweile vollständig in Ignacio Montoya Carlotto verwandelt, den aufstrebenden Musiker, der gern über sein neues Projekt spricht, das „Ignacio Montoya Carlotto Septeto“. Einem verlorenen Leben nachzutrauern ergibt für ihn keinen Sinn. „Meine Eltern haben gelitten. Wenn ich daran denke, dass sie bereit waren, für ihre Überzeugungen zu sterben, dann kann ich das kaum fassen, weil ich nichts von all diesem Leid erleben musste. Ich hatte Mutter und Vater, die all das für mich taten, was andere Eltern auch getan hätten.“

Es ist schwer zu sagen, ob Verdrängung mit im Spiel ist, wenn Ignacio so redet. Vielleicht gehört er einfach zu den seltenen Menschen, die fest entschlossen sind, das Beste aus der Welt zu machen, in die sie hineingeboren sind – auch wenn er nach 36 Jahren erfahren musste, dass es die falsche Welt war, in die er hineingeriet, und das er zum Opfer eines abscheulichen Verbrechens wurde.

Unterdessen setzt Estela ihre Arbeit fort. Noch immer nimmt sie jeden Tag die dreistündige Fahrt ins Büro der Abuelas in Buenos Aires auf sich und reist durch die Welt, um ihre Botschaft zu verbreiten. Ignacio war der 114. verlorene Enkel, dessen wahre Herkunft ermittelt werden konnte. Von so vielen anderen fehlt nach wie vor jede Spur. Estela denkt nicht daran, aufzuhören: „Der einzige Gedanke, den ich hatte, war, dass Laura nun in Frieden ruhen kann. Mir war, als würde sie zu mir sagen: ,Mama, die Mission ist endlich erfüllt.‘“

Uki Goñi ist ein argentinischer Journalist und Historiker

Übersetzung: Holger Hutt

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