Wenn Sie sich diesen Artikel vorlesen lassen wollen benutzen Sie den Accesskey + v, zum beenden können Sie den Accesskey + z benutzen.
24. Dezember 2014 10:20 Uhr
Katholische Kirche
Das Lächeln hat er erst als Papst gelernt, sagen seine Weggefährten: Auf den Spuren eines gewissen Jorge Mario Bergoglio in seiner Heimat Argentinien – eine Reportage von Gerhard Kiefer.
-
Argentina! Der erste Papst aus Amerika Foto: AFP
-
Erstklässler Jorge Mario Foto: gerhard kiefer
-
Schwangere Maria in Cordoba Foto: gerhard kiefer
-
1 / 4
Bergoglio? Ernesto Lanch lächelt sofort. Natürlich erinnert sich der 79-Jährige in Buenos Aires an seinen Schulkameraden. Hier, in der Grundschule Nr. 8 an der Calle Varela im Stadtteil Flores. Wie war er, dieser Bergoglio, haken wir im fröhlichen Pausenlärm der Mädchen und Buben neugierig nach: schüchtern, frech, gescheit? Vor allem: War schon der kleine Jorge Mario ziemlich fromm? "Nada", nuschelt der freundlich-knitze Mann, nichts von alledem: "Als Bub wollte der heutige Papst immer nur Fußball spielen."
Wie Lanch sind viele seiner Landsleute stolz, dass nun ein Argentinier an der Spitze der größten Religionsgemeinschaft der Welt steht. Der erste Papst aus Lateinamerika, dem einzigen katholischen Erdteil, der Erste von der Südhalbkugel, der erste Jesuit, einer der ganz wenigen Päpste aus einem Orden und der erste, der erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zum Priester geweiht worden ist! Die Wahl des Kardinals an die Spitze von 1,3 Milliarden Katholiken wird für dieses Land am 13. März 2013 zum freudigen Schock.
Werbung
Doch ihren Stolz leben die Argentinier ganz anders als damals die Polen. Dort prägte nach dem 16. Oktober 1978 zum Ärger der Kommunisten das Konterfei Karol Wojtyłas das öffentliche Leben. Kaum ein Schaufenster ohne ein großes Farbfoto des zum Papst gewählten Krakauer Kardinals. In Argentinien sehen wir selbst in Kathedralen kein Bergoglio-Bild. Umso mehr überrascht uns die kleine Dorfkirche von Humahuaca, einem als Weltkulturerbe geadelten Dorf in den Anden nahe der bolivianischen Grenze.
Dort grüßt vor dem Goldaltar Papa Francisco als "Padre y Pastor" sogar von einem Poster. Doch als wir es fotografieren, zetert eine Indiofrau zornig: "Más Respeto, el es finalmente nuestro Papa – mehr Respekt, er ist schließlich unser Papst"! 500 Jahre Mission haben in diesem Hochtal mit seinen berühmten bizarr bunten Bergen den Aberglauben nicht besiegt. Fotografiert zu werden bringt Unglück. Und Jesus Christus und Pacha Mama, die Göttin Mutter Erde, sind hier Gestalten einer Religion. 3000 Meter über dem Meer und 1700 Kilometer fern von Buenos Aires.
Die Hauptstadt zählt drei Millionen Menschen. Insgesamt sogar 13 Millionen leben in Gran Buenos Aires, der ausufernden Agglomeration am Rio de la Plata, ein Drittel aller Argentinier. Innenpolitisch und ökonomisch instabil, kämpft das europäischste Land Lateinamerikas von der achtfachen Größe Deutschlands bei 25 Prozent Inflation derzeit wieder um seine Zahlungsfähigkeit. Die Banken geben uns für einen Euro acht Pesos. Auf der zentralen Avenida 9 de Julio zischen uns zwischen wunderbar violett blühenden Jacarandabäumen Scharen von Schwarzhändlern "Cambio" zu und bieten satte 13.
Exakt 400 Jahre nach der Gründung der Stadt durch die Spanier kommt als Sohn italienischer Einwanderer am 17. Dezember 1936 hier Jorge Mario Bergoglio zur Welt. Er wird Chemielaborant, hat dann aber ein Berufungserlebnis. Weil er "Seelenarzt" werden will, geht er zum Verdruss seiner Mutter zu den Jesuiten, studiert "filosofia y teologica". 1969 zum Priester geweiht, wird Bergoglio 1979 Rektor des Colegio Maximo de San José in der Nachbarstadt San Miguel. Jesuitenbruder Mario, Enkel wolgadeutscher Einwanderer, schwärmt noch immer vom Miteinander von Professoren und Studenten, als der heutige Papst hier Chef war. Und von Bergoglios fabelhaften Paellas.
Doch hier holt uns Argentiniens Geschichte von 1976 bis 1983 ein – die Zeit der blutigsten Militärdiktatur Lateinamerikas. 30 000 Menschen fallen der Junta zum Opfer. Fast alle gefoltert von den Schergen der Generäle, nicht wenige betäubt und mit geistlichem Beistand aus dem Flugzeug ins Meer geworfen. Im Colegio hat Bergoglio Bedrohte übernachten lassen. Dass der riskiert hätte, sie hier zu verstecken, behauptet Bruder Mario nicht, er sei "da immer ganz vorsichtig gewesen". Immerhin hat der Rektor Verfolgte ins Ausland gerettet. Aber ein Held war er wohl nicht.
Fragen nach der damaligen Rolle der Kirche sind auch deshalb offen, weil mehrere Bischöfe mit der Junta zumindest sympathisiert haben. Obwohl diese auch Enrique Angelelli ermordeten, den sozial engagierten Bischof von La Rioja. Doch weshalb hat sich Bergoglio stets geweigert, sein Diözesanarchiv zu öffnen? Und sich nie mit den madres y abuelas solidarisiert, den Müttern und Großmüttern, die seit 35 Jahren auf der Plaza de Mayo – direkt neben seiner Kathedrale – verzweifelt um ihre verschwundenen Väter, Männer, Söhne und Enkel trauern? Als allenfalls grenzwertig gilt Bergoglios Behauptung 2010 vor Gericht, er habe erst "Jahre oder Jahrzehnte" später davon gehört, dass die Junta damals 500 von ihr verhafteten schwangeren Frauen sofort nach der Entbindung die Babys wegnahm, sie Sympathisanten zur Adoption freigab und die Mütter ermordete. Als Papst räumt er 2014 pauschal ein, er habe "haufenweise Fehler und Sünden begangen".
Doch Daniel Blanchoud, sein einstiger Beichtvater, relativiert dieses "Mea culpa". Der 54 Jahre alte Pater ist Rektor der Basilika von Luján; ihre 106 Meter hohen Doppeltürme dominieren 75 Kilometer westlich von Buenos Aires weithin sichtbar die Pampa. Einzigartig ist ihre Krypta, in der jedes Land Lateinamerikas einen nationaltypischen Altar gestaltet. Die Madonna im Strahlenkranz von Luján ist seit 1685 Argentiniens wichtigstes Marienheiligtum und die Schutzpatronin des Landes. Millionen pilgern jedes Jahr zu ihr.
Pater Blanchoud beteuert, Bergoglio habe nie mit der Junta sympathisiert. Aber auch nicht mit der vom Vatikan als links verdammten Theologie der Befreiung. Er skizziert Papst Franziskus als Mann großer Klarheit: "Er wusste immer, was er wollte, und das hat er gemacht." Als Mann der "Theologie des Volkes" habe der Erzbischof stets eine Option für die Armen gehabt und Messen sogar für Prostituierte gelesen. "Die Armen sind die Bevorzugten Gottes", predigt er am dritten Adventssonntag 2014 in Rom, "sie stehen im Zentrum des Evangeliums."
Was diese "Option" bedeutet, begreifen wir erst, als wir nahe seiner Grundschule nicht ins Elendsviertel dürfen und am Sonntag auf gar keinen Fall zum Gottesdienst in die Slums: "Viel zu gefährlich! Kein Taxi- und kein Busfahrer wird Sie dorthin bringen!" Bergoglio hingegen habe sich in die Slums getraut, als Kardinal im schwarzen Anzug, nie mit Chauffeur, immer per Bus oder U-Bahn. Und er habe "in seinen großen Tüten für die immer was dabeigehabt", loben "Porteños", die Hauptstadtbewohner, das soziale Wirken des Primas von Argentinien. Zum Establishment zählt der sich nie. Wenn er nach Rom muss, fliegt er "Holzklasse". In der First Class, sagt er, treffe er Jesus nicht.
Den krassen Kontrast erleben wir, als wir in einem Park im Stadtteil Recoleta den schlossgroßen, kostbar ausgestatteten und der Kirche geschenkten Palacio Fernández Anchorena betreten dürfen, die päpstliche Nuntiatur. Paul Emil Tscherrig, 67, Erzbischof aus der Schweiz, hat weltweit eine Alleinstellung: Botschafter des Papstes zu sein in dessen Heimat. Er outet sich zunächst aber als Bewunderer des emeritierten deutschen Papstes Benedikt: "Genial, ein großer Mann." Franziskus schätzt der Nuntius, ganz Diplomat, "weil er so ist, wie er ist".
Aus Deutschland hat Jorge Mario Bergoglio eine spezielle Marienverehrung nach Argentinien importiert: In der Wallfahrtskirche St. Peter am Perlach in Augsburg entdeckt er 1985 "Maria die Knotenlöserin". Sie entwirrt auf dem anno 1700 entstandenen Barockgemälde ein verknotetes helles Band, während sie mit dem Fuß eine Schlange zertritt, das Symbol des Teufels. Maria, besagt das Motiv, hilft den Menschen, die "Knoten des Lebens" zu lösen, also ihre Sorgen und Probleme.
Eine Kopie stellt Bergoglio in der Kirche San José de Talar in Buenos Aires auf und initiiert damit sofort einen Pilgerstrom. Als Papst hat er ein Exemplar nun auch im Gästehaus Santa Marta, in dem er wohnt. "Knoten" zu lösen hat er im Vatikan schließlich genug …
Als besonderes Marien-Wallfahrtsziel gilt dem Marienverehrer gewiss der Convento San Francisco in der 500.000 Einwohner großen Vorandenstadt Salta. Dort steht in der "Capilla Virgen de la dulce espera" lebensgroß eine Statue der Jungfrau Maria – unübersehbar hochschwanger! Im Korb vor ihr anrührendes, meist handgeschriebenes Flehen von Frauen, Maria möge ihnen helfen, endlich schwanger zu werden. Und Dankesbriefchen dafür, wenn es endlich geklappt hat. Die hochschwangere Jungfrau entdecken wir als Statue auch in der Lourdeskapelle der Jesuitenbasilika in Cordoba.
Doch dort, in der mit 1,5 Millionen Einwohnern Argentiniens zweitgrößter Stadt, bekommt Bergoglios bis dahin bruchlose Karriere vor 30 Jahren ihre einzige, aber deftige Delle. Hätte er die ordenseigene Universidad del Salvador nicht aus der Hand geben dürfen? Hat er als Jesuitenprovinzial zu oft zu autoritär entschieden, polarisiert, Mitbrüder provoziert, zwei von ihnen gar der Junta ausgeliefert, auch wenn sie überlebt haben? Hat ihm Rom deshalb das "Sabbatical" verpasst? In Cordoba deuten manche auf ein vergittertes Fenster und munkeln, man habe dem Strafversetzten damals sogar die Post gefilzt.
So passt es gut, dass das Papst-Poster am Portal der Jesuitenkirche von Cordoba mit "Recen por mi" überschrieben ist, "betet für mich". Doch irgendwann hat Jorge Mario Bergoglio genug gebüßt. Er steigt – völlig verblüffend nach dieser Verbannung und ganz ungewöhnlich für einen Jesuiten – rasch auf: 1992 Weihbischof, 1993 Generalvikar, 1997 Koadjutor, 1998 Erzbischof, 2001 Kardinal. Unweit seiner einstigen Zelle nahe der Kathedrale steht er nun sogar schon als Papst, allerdings nur aus Pappe. Zum Spaß der Touristen, die sich am Café con Dios für ein Selfie danebenstellen oder "ihn" gar umarmen …
Mariano Fazio, 54, in Argentinien Generalvikar der konservativen Laienorganisation Opus Dei, lässt eitel sein iPhone kreisen. Weil das ihn mit Duzfreund Francisco in Rom zeigt: "Wir sind gegenseitig auf Empfang." Der habe, verrät er uns, ihm schon verraten, Benedikt sei nicht der letzte Papst, der zurückgetreten sei. Wie der Nuntius sagt auch Fazio, Bergoglio habe in Buenos Aires stets ernst und streng, manchmal gar melancholisch gewirkt. "Gelächelt", sagen beide, "hat er hier nie, das hat er erst in Rom gelernt."
Differenzen zwischen dem demissionierten Papst aus Deutschland und dem amtierenden aus Argentinien sieht der Opus-Dei-Mann nicht, die beiden seien "theologisch komplementär". Aber eine deutliche Diskrepanz markiert der smarte Monsignore dann doch: "Benedikt sprach immer aus dem Kopf, Franziskus spricht immer aus dem Herzen."
Autor: Gerhard Kiefer
Open all references in tabs: [1 - 4]