Der Onkel mit den Bonbons

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17. November 2012

"Wakolda": Lucía Puenzo hat einen Roman über den Nazi-Arzt Josef Mengele geschrieben.


  1. Lucia Puenzo bei der Vergabe der Goya-Filmpreise 2008 Foto: dpa

Ein Roman über Josef Mengele. Ein Roman über den KZ-Arzt im argentinischen Exil, der Fakten und Legenden miteinander verwebt. Kann das gutgehen? Es kann. Sehr sogar.

Lucía Puenzo, Argentiniens Multitalent, hat sich mit ihrem neuen Roman "Wakolda" auf dünnes Eis gewagt. Weil die 35-jährige Schriftstellerin und preisgekrönte Filmregisseurin ("XXY") die Gefahren eines solchen Unterfangens geschickt umgeht, ist ihr Werk geglückt.

Josef Mengeles Umtriebe in Argentinien bilden die Grundlage für "Wakolda", wobei der Übergang von Fakt und Mythos fließend ist. José, wie sich Mengele im Exil nennt, muss auf der Flucht vor seinen Häschern Buenos Aires verlassen. Auf dem Weg nach Bariloche schließt er sich für die Autofahrt durch die Wüste einer argentinischen Familie an. Nach und nach erschleicht sich José ihr Vertrauen. Insbesondere Tochter und Mutter wecken den Forscherdrang des ehemaligen KZ-Arztes. Die 12-jährige Lilith ist blond, hat helle Augen und helle Haut – ein "Prachtexemplar" in den Augen des Rassehygienikers. "Die Kleine hatte einige arische Gene in sich aufgenommen, doch nicht genug, um ihre tierischen Züge ganz verschwinden zu lassen." Was José noch mehr reizt: Lilith ist kleinwüchsig. "Laborratten, die bis auf einen nicht hinnehmbaren Makel perfekt waren, faszinierten ihn mehr als andere." Im prallen Bauch der Mutter vermutet José Zwillinge. Schon in Auschwitz hat der Nazi-Arzt bekanntlich mit unvorstellbarer Grausamkeit Forschung an Zwillingen betrieben. In Bariloche angekommen, mietet sich der Deutsche bei der Familie ein, um seinen Studienobjekten nahe zu sein. Während José den Eltern zwar unheimlich bleibt, sie ihn aus Geldgründen aber dulden, verfällt ihm die kleine Lilith. Bald lässt sie den Arzt an sich Hormonexperimente durchführen. Als er die Dosis immer weiter erhöht, hütet sie das Geheimnis vor den Eltern. Sie verschwört sich mit Onkel Mengele, ohne zu bemerken, dass sie zum Opfer, er zum Peiniger wird. Als bei der Geburt der Zwillinge Komplikationen auftreten und José rettend einschreitet, überlässt die Familie ihm die Führung. Obwohl er weiß, dass man ihm dicht auf den Fersen ist, verschiebt der Arzt seine Flucht nach Paraguay bis zur letzten Minute. Zu sehr genießt er es, Herr über Leben und Tod zu sein.

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Mit der Charakterisierung von Mengele vollbringt Lucía Puenzo in ihrem dritten auf Deutsch erschienenen Roman eine Meisterleistung. Sie schafft es, Mengele als gewissenlosen Verbrecher darzustellen, ohne ihn zu dämonisieren – und entgeht damit plakativer Schwarz-Weiß-Malerei. Dazu wählt Puenzo einen unbequemen Weg: Ihr Erzähler ist nicht distanziert. Abwechselnd schlüpft er in die Romanfiguren und übernimmt ihre Perspektive – auch die von José.

Damit zwingt Puenzo den Leser, sich ein Stück weit mit Mengele zu identifizieren, seine menschenverachtende Logik von Rassenreinheit nachzuvollziehen, wenn auch nicht zu teilen. Diese gelungene Gratwanderung verdient großes Lob. Mit ihr gewinnt die Figur an Tiefe, die Geschichte an Dramatik. Außerdem zeigt sie dem Leser: Auch du hättest auf den freundlichen Onkel mit den Bonbons reinfallen können. Zusammen mit der Perspektive der naiven Lilith und der einer KZ-Überlebenden, die für den Mossad ihren Peiniger sucht, ergibt sich ein differenziertes Bild, das keine Zweifel an den Gräueltaten dieses Mannes lässt.

Bereits ihren ersten Roman, "Das Fischkind", verfilmte Puenzo selbst. Auch "Wakolda" soll auf die Leinwand kommen. Mit den Dreharbeiten hat Puenzo bereits begonnen. Die Lektüre von "Wakolda" ist kein Spaziergang, sie geht unter die Haut. Der Roman ist klug, rasant erzählt, taktvoll. Und einfach sehr gut.

– Lucía Puenzo: Wakolda. Roman. Aus dem argentinischen Spanisch von Rike Bolte. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012. 188 Seiten, 18,80 Euro.

Autor: Charlotte Janz

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