Wenn ein Argentinier in Deutschland in ein neues Leben startet, lässt er seine Familie, seine Freunde, seine Kultur und das, was er als Normalität kennt, fast 14.000 Kilometer hinter sich.
In den frühen 2000er-Jahren erschütterte eine Wirtschaftskrise das südamerikanische Land Argentinien. Kriminalität und Korruption nahmen stark zu – und 20 000 Argentinier sahen sich gezwungen, ihr Land zu verlassen. Auf der Suche nach Sicherheit sowie politischer und wirtschaftlicher Stabilität begaben sich in ein unbekanntes Terrain – meist nur mit geringen Sprachkenntnissen. Was vor ihnen lag, ob sie in der Ferne Erfolg haben würden, konnten sie nicht einmal ahnen.
Auch meine Familie war von der Krise betroffen. Mein Vater Mariano Rodriguez und meine Mutter Monica Carstens verließen gemeinsam mit mir, Barbara, das Land. Das war vor zehn Jahren, ich war damals sieben Jahre alt. Meine Eltern hatten sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Schließlich ließen sie Arbeit, Freunde und gewohnte
Umgebung zurück. Doch damals hatte die Kriminalität in der Hauptstadt Buenos Aires ein so hohes Maß erreicht, dass niemand am Morgen beim Verlassen seines Hauses wissen konnte, ob er seine Familie am Abend wiedersehen würde. In Deutschland hofften sie auf ein sicheres und lebenswertes Leben. Diese vor zehn Jahren getroffene Entscheidung änderte unser Leben von Grund auf – und doch sind wir zu einhundert Prozent Argentinier geblieben.
In eine neue Umgebung eingewöhnen
Einfach ist es wohl nie, sich in eine neue Umgebung einzugewöhnen. Selbst die Diplomatin Victoria Stöger, die vor vier Jahren vom argentinischen Auswärtigen Amt mit ihrer Familie nach Deutschland entsandt wurde, beschreibt diesen Prozess als eine große Umstellung.
Auch unsere Bekannte Uschi Otto, die schon vor 32 Jahren aus Argentinien nach Deutschland gekommen ist, musste sich bei ihrer Ankunft erst an die manchmal verschlossene Art der Deutschen gewöhnen. Uschi Otto zog aus Liebe zu ihrem Mann nach Deutschland. Sie hatte Glück, dass die Familie ihres Mannes sie mit offenen Armen aufgenommen hatte. Ihr Vorteil war auch, dass sie die deutsche Sprache von Geburt an gelernt hatte. So konnte sie ohne Probleme mit den Deutschen kommunizieren und sich besser einleben.
Die deutsche Sprache hingegen war das Problem meines Vaters. Meine Mutter und ich sprachen und lernten Deutsch von Geburt an und hatten daher keine großen Schwierigkeiten mit der Sprache. Doch Vater, der Argentinier, musste sich Tag für Tag quälen, damit man ihn versteht, obwohl er schon in Argentinien unzählige Sprachkurse belegt hatte. „Es ist immer besser, sich in der ein oder anderen Situation, besser auszudrücken beziehungsweise sich verbal zu verkaufen, um so die Sicherheit zu haben, mit dem Gesprächspartner auf einer Ebene zu sein. Man kann zum Beispiel kein Leben retten, wenn sich der Wortschatz auf nur ,Mein Name ist …’ begrenzt“, sagt Vater. Der Wille, die deutsche Sprache zu erlernen, ist also vorhanden, doch für die meisten ist es schwer, sich wie in ihrer Muttersprache auszudrücken.
Geringere Wertschätzung
Ein weiteres Problem sei, dass Argentinier in der deutschen Arbeitswelt zuweilen eine geringere Wertschätzung erführen. Das berichtet Martín Olivera, der seit einigen Jahren in Deutschland lebt. Er brauchte acht Monate, um einen Job zu finden. „Dass man keinen deutschen Universitätstitel hat, macht die Arbeitssuche oft schwer“, sagt Olivera.
Den meisten argentinischen Einwanderern ist es wichtig, Freunde zu finden, die sie so akzeptieren, wie sie sind. „Denn selbst wenn man die Sprache kann, sehen dich die meisten nur als Südamerikanerin“, sagt Uschi Otto über das zuweilen klischeehafte Denken der Deutschen.
Um das Heimweh der Argentinier zu lindern, organisieren das argentinische Konsulat in Bonn und die anderen Konsulate, Feste. Gefeiert werden traditionelle und historisch wichtige Ereignisse. „Im Jahr 2010 haben wir zum Beispiel im Kölner Dom das 200-jährige Bestehen von Argentinien mit 200 Argentiniern gefeiert“, sagt der stellvertretende Konsul des argentinischen Konsulates in Bonn, Frau Victoria Stöger. Sie ergänzt: „Argentinier finden sich, egal wo man ist. So haben sich schon mehrere argentinische Gruppen gegründet, in denen sie ihren Traditionen treu bleiben. Hauptsächlich in Berlin, Stuttgart, München, Köln, Frankfurt am Main, wie auch Düsseldorf, Dresden und Hamburg“.
Der Nationalmannschaft den Rücken stärken
In einer solchen Gruppe trifft sich auch meine Familie mit anderen Argentiniern. Dorthin nehmen wir typische Spezialitäten mit, sprechen mit unseren Landsleuten und alle vier Jahre stärken wir aus dem weit entfernten Deutschland bei den Weltmeisterschaften der „Albiceleste“, unserer Fußballnationalmannschaft, den Rücken.
Anders als in Argentinien gibt es in manchen Firmen in Deutschland Schichtarbeit. Das war etwas, das meinen Vater sehr verwunderte, als er anfing zu arbeiten. Eigenartig war auch, das berichtet die Diplomatin Victoria Stöger, dass ihr älterer Sohn in der Schule einen „Führerschein“ machen musste, um Fahrrad zu fahren. Auch fürs Angeln brauchte er plötzlich eine Art „Führerschein“. Das gibt es in Argentinien nicht.
Was die Argentinier aber sehr an Deutschland schätzen, ist die Pünktlichkeit der öffentlichen Verkehrsmittel und die stabile Politik, die den Menschen hilft, zum Beispiel bei Not wegen Armut.
Schönes Wetter, milde Wintertage und späte Abendessen
Doch trotz der ganzen positiven Dinge, die das Leben in Deutschland ihnen bringt, denken die meisten leicht wehmütig an ihr Leben in Argentinien zurück. Sie vermissen das schöne Wetter, den hellblauen Himmel, die milden Wintertage, die Abendessen, die erst um 21 Uhr anfingen, die Montage mit den garantierten Witzen, die man zu hören bekam, wenn die Lieblings-Fußballmannschaft verloren hatte sowie die Gelassenheit und Spontaneität der Menschen.
Die meisten Kinder der argentinischen Einwanderer schaffen es, sich besser in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Ihnen fällt es leichter, die Sprache zu erlernen und Freunde zu finden als ihren Eltern. Aber trotzdem wachsen sie mit der argentinischen Kultur auf.
Sie verfolgen die täglichen Geschehnisse in Argentinien und manche absolvieren neben der deutschen Schullaufbahn sogar die argentinische. Das machen vor allem diejenigen, bei denen feststeht, dass sie irgendwann wieder zurück nach Argentinien ziehen werden.
Glücklich, in Deutschland zu leben
Viele Familien machen die Erfahrung, dass ihre Kinder wissen, dass sie stolz darauf sind Argentinier zu sein, aber dass sie auch glücklich sind, hier in Deutschland zu leben.
Wenn Kinder zwischen zwei Kulturen aufwachsen, kann das aber auch Probleme nach sich ziehen. So wie bei Uschi Otto: „Mein Wunsch war immer, meinen Sohn zweisprachig aufwachsen zu lassen. Aber als er in die Schule kam, bekam er Probleme mit dem Lesen, da ich zu Hause Spanisch mit ihm sprach. Somit musste ich mein Vorhaben aufgeben.“
Auf die Frage, ob sie jemals wieder zurück nach Argentinien ziehen würden, antworten die meisten von mir befragten Argentinier mit „Nein“. Auch einen anderen Satz hört man oft: „Wenn die Sozialpolitik in Argentinien wie in Deutschland wäre, dann wäre es ein Land zum Leben. Und keines, das man nur besucht.“
Nicht nach Argentinien zurückkehren
„Wir müssen als Argentinier wachsen, denn erst seit ich eine Zeit lang in Deutschland wohne, kann ich mit klarem Verstand sehen, wie man in Argentinien ums Überleben kämpfen muss“, sagen mein Vater und Martín Olivera über ihre Entscheidung, warum sie momentan nicht nach Argentinien zurückkehren würden.
Alle von mir Befragten schätzen die Sicherheit in Deutschland. Und daher fasst mein Vater zum Schluss das Leben in Deutschland so zusammen: „Unsere kurze Existenz auf dieser Welt sollten wir Menschen in einem Land wie Deutschland leben. Dann wäre die Welt fast perfekt“. Denn wem gefällt es nicht, fragt er, wenn man deine Rechte achtet, deine Arbeit relativ sicher ist, die Banken im Vergleich zu Argentinien zuverlässig sind und man keine Angst haben muss, dass von einem auf den anderen Tag die Ersparnisse weg sind? Wenn deine Kinder entscheiden können, was sie studieren möchten, wenn man weiß, dass die Steuern, die man zahlen muss, sinnvoll eingesetzt werden und nicht in irgendwelchen korrupten Geschäften investiert werden? „An dem Tag, an dem Deutschland nicht mehr Deutschland ist, werde ich die Entscheidung treffen, zurück in mein Land zu kehren.“
Barbara Rodriguez Carstens,
Jahrgang 11,
Gesamtschule Haspe,
Hagen