Das wird schon wieder – WESER

Einmal noch in diesen tristen Nach-WM-Monaten war alles wieder wie im Sommer. Man sah Thomas Müller, wie er sich im Dirndl nach einer verlorenen Wette zum Affen machte. Man sah Lukas Podolski, wie er mit Indianern tanzte. Man sah ihn, wie er einen Reporter in den Swimming-Pool schubste. Man sah den dunkelhaarigen attraktiven Herrn aus der Nivea-Werbung, also Joachim Löw, beim Joggen am Strand von Campo Bahia. Schließlich raunzte Per Mertesacker nach dem schwer erkämpften Achtelfinalsieg gegen Algerien noch einmal ins Reporter-Mikro: „Wat wolln Se von mir?“

Mensch, war das schön. So war das im Sommer von Brasilien: 4:0 gegen Portugal, 1:0 gegen Klinsis Amis, 7:1 gegen Brasilien, 1:0 gegen Messi im Finale. Der vierte WM-Titel, der vierte Stern, gehörte Deutschland. Endlich. Daran und an den strahlenden Weg dorthin durfte man sich im düsteren November noch einmal erfreuen. Der Streifen „Die Mannschaft“, eine Art Neuverfilmung des Sommermärchens von 2006, nur mit Happy End, feierte Premiere in den deutschen Kinos, und alle waren noch einmal in Berlin zusammengekommen. Die WM-Helden, die Trainer, die Fans. Es war viel Strahlen, Schwelgen und Schwärmen.

Dazwischen, also nach dem WM-Triumph und vor dem Kinofilm, war viel Schaudern, Sorgen und Stirnrunzeln. Das also soll der Weltmeister sein? Philipp Lahm, Per Mertesacker, Miro Klose – alle nicht mehr da, Nationalmannschaftsabgänge, Nur-Noch-Vereinsspieler. Mesut Özil, Bastian Schwein-steiger, Sami Khedira – alle kaputt, verletzt, ausgezehrt. Mats Hummels, Lukas Podolski, Benedikt Höwedes – alle außer Form, auf der Ersatzbank, manchmal sogar auf der Tribüne.

Die Bilanz seit jener wundervollen Nacht von Rio lautet: 2:4 gegen Argentinien, 0:2 in Polen, 1:1 gegen Irland. Oh je. Der Weltmeister, der nicht sehr weltmeisterlich spielt, steht nur auf Platz drei seiner EM-Qualifikationsgruppe. Stand heute wäre man damit gerade so bei der Europameisterschaft in Frankreich 2016 dabei.

Hat die deutsche Nationalmannschaft den Gipfel längst erreicht? Befindet sich Löws Mannschaft schon wieder auf dem Abstieg?

Nein.

Natürlich: Die Ergebnisse stimmen nicht. Und ja, der Verlust von fast 400 Länderspielen Erfahrung nach den Abgängen von Lahm, Mertesacker und Klose hat die Ordnung in der Truppe tüchtig durcheinander gewirbelt. Ja, es fehlen nach wie vor Außenverteidiger von Format. Und nochmals Ja, ein erstklassiger Mittelstürmer ist weit und breit immer noch nicht in Sicht.

Und trotzdem werden die nächsten Titel bei Welt- und Europameisterschaften über Deutschland entschieden. Welches Team verfügt denn über mehr Möglichkeiten? Spanien? Theoretisch ja, aber dort hat der Neuaufbau der Nach-Xavi-Puyol-Villa-Ära gerade erst begonnen. Italien? Hat schon seit Jahren Probleme im Vereinsfußball und in der Nationalmannschaft. Holland? Dort hat Guus Hiddink gerade erst seinen Rauswurf nach desaströsen Ergebnissen verhindert. Frankreich? Schon eher ein Konkurrent, wenn sich dort endlich Spielfreude auf dem Platz mit Anstand außerhalb des Feldes paart. Und England? Ist England!

Aber es ist ja nicht nur die Schwäche der anderen, die Deutschland stark macht. Die DFB-Elf verfügt über eine Achse auf Weltklasseniveau: früher Sepp Maier, Franz Beckenbauer, Wolfgang Overath und Gerd Müller – heute Manuel Neuer, Jerome Boateng, Toni Kroos und Thomas Müller. Von Kickern wie Mario Götze, Mats Hummels, Mesut Özil, Marco Reus und André Schürrle, wenn sie denn gesund und halbwegs in Form sind, träumt jeder Nationaltrainer.

Apropos Nationaltrainer. Bundestrainer heißt er hierzulande, und Joachim Löw ist es inzwischen seit acht Jahren. Er macht einen überragenden Job. Er hat als Assistent von Jürgen Klinsmann einst den Aufbruch eingeleitet und spätestens in diesem Sommer eine Generation vergoldet. Gerade diese WM hat gezeigt, wann der Trainer Löw am besten ist, nämlich dann, wenn er auf Widerstände trifft.

Man mag es inzwischen vergessen haben, aber vor der WM in Brasilien war ein Titelgewinn alles andere als eine ausgemachte Sache. Reus? Schwer verletzt im letzten Testspiel. Schweinsteiger? Nicht fit. Khedira? Nicht fit. Hummels, Mertesacker, Götze, Klose, Özil – erschöpft nach einer strapaziösen Saison mit ihren Klubs. Diese Elf der Lädierten sollte den vierten Titel holen? Sie taten es, weil Löw es wie kaum ein anderer versteht, über einen bestimmten Zeitraum, bei der WM waren es rund acht Wochen inklusive Vorbereitung, eine Mannschaft auf den Punkt zu Höchstleistungen zu bringen.

Die DFB-Elf wird 2015 eher nicht auf Anhieb wieder mit großem Fußball verzaubern, im Grunde macht sie bis zum nächsten Sommer Pause, denn es stehen nur zwei Pflichtspiele auf dem Programm und die auch nur gegen Georgien und Gibraltar. Aber danach, wenn es in den Endspurt der EM-Qualifikation geht, und erst recht, wenn im Juni 2016 das Turnier in Frankreich beginnt, wird diese Mannschaft wieder strahlen. Dass Deutschland sich 2016 Welt- und Europameister nennen darf, ist absolut nicht auszuschließen.

Marc Hagedorn

über die große

Depression

nach dem WM-Titel

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