Das Kaffeehaus Südamerikas

Der ältere Herr saß ein bisschen versteckt im hinteren Teil des "Gran Café Tortoni". Vor ihm auf dem runden weißen Marmortischchen stand eine kleine Kaffeetasse, daneben ein Glas Wasser und ein Tellerchen mit einer "Media Luna", dem kleinen argentinischen Croissant. "Das ist Jorge Luis Borges", raunte mir der Kellner vielsagend zu, "der kommt häufig hier zu uns." Es war Anfang der 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts, ich lebte als DAAD-Stipendiatin in Buenos Aires. Von meiner Wohnung war es nur ein Sprung zum "Tortoni", das zu meinem Stammlokal wurde.

Ein Jahrzehnt später habe ich noch ein großes Interview mit Borges machen können, dem größten Schriftsteller Argentiniens, der 1986 starb. Als ich ihm erzählte, dass ich ihn damals im "Tortoni" gesehen hatte, sagte der schon völlig Erblindete traurig: "Schade, warum sind Sie nicht an meinen Tisch gekommen und haben mir ein bisschen von Deutschland berichtet?"

Warum erzähle ich das alles? Weil das "Café Tortoni" für jeden, der begreifen möchte, was Buenos Aires einmal war, ein Schlüsselerlebnis ist. Eingeweiht wurde es 1858 von seinem ersten Besitzer, einem Franzosen, Monsieur Touan. Argentinien entwickelte sich gerade zu einem vielversprechenden Mekka für europäische Einwanderer. So verschlug es auch viele Franzosen an den Rio de la Plata, wo Buenos Aires sich stolz den Ruf erwarb, das "Paris Lateinamerikas" zu sein. Seit 1880 befindet sich das "Tortoni" an der Avenida de Mayo – zwischen der Casa Rosada, Regierungssitz des Staatspräsidenten, und dem argentinischen Kongress. So wurde es auch zum Treffpunkt für viele Politiker, obgleich diese sich auch gern in der "Confitería del Molino" trafen, direkt gegenüber dem Kongress. Aber dieses 1916 eingeweihte Kleinod des argentinischen Jugendstils ist seit 1997 geschlossen. Viele Porteños, die Bewohner von Buenos Aires, hoffen seitdem sehnlichst auf eine Renovierung. Auch manch anderes berühmtes Kaffeehaus, etwa die "Confitería del Aguila" oder die "Confitería Ideal", sind nur noch Schatten ihrer selbst. Einzig das "Gran Café Tortoni" hat als Tempel der Belle Époque alle Stürme der Zeit gut überstanden.

Das "Tortoni" lebt heute davon, dass viele Persönlichkeiten der argentinischen Geschichte und des Geisteslebens dort regelmäßig zu Gast waren. Berühmtester Staatsmann war sicher Präsident Marcelo Torcuato de Alvear. Er war ein Politiker des Ausgleichs, dem damals eine große Zukunft vorausgesagt wurde; seine Regierungszeit reicht weit zurück in die 20er-Jahre des vorigen Jahrhunderts, die politisch wie wirtschaftlich erfolgreichste Zeit des Landes. Star jener Jahre war natürlich Carlos Gardel, der berühmteste Tangosänger aller Zeiten. Viele seiner unvergesslichen Lieder – Tangos, Milongas und Walzer – erklingen nun im Keller des "Tortoni", wo regelmäßig Tangoshows stattfinden. Im saalartigen Hauptraum des "Tortoni" mit seinen weißen Säulen und den dunkelbraunen Holzvertäfelungen erinnert eine Büste an Gardel – diese Ehre wird auch Jorge Luis Borges zuteil und Alfonsina Storni. Die große unglückliche Dichterin nahm sich 1938 das Leben – zuvor hatte man die scheue Frau häufig im "Tortoni" gesehen.

Aufmerksam sollte man sich die Bilder an den Wänden ansehen. Da sind zum Beispiel Werke des Malers Quinquela Martín dabei, der durch seine Gemälde das alte Hafenviertel La Boca unsterblich gemacht hat. Übrigens traf man früher auch Juan Manuel Fangio im "Tortoni", den legendären Autorennfahrer und fünfmaligen Weltmeister der Formel 1. Er war, anders als der dem Rauschgift zugeneigte argentinische Fußballstar Maradona, ein immer soigniert gekleideter Herr und repräsentierte noch bis weit in die 80er-Jahre hinein deutsche Firmen am Rio de la Plata, darunter Mercedes-Benz.

Neben all der Kunst und Geschichte kann man im "Tortoni" zum Glück auch gutes Essen genießen. Dass es hier nicht besonders billig ist, versteht sich von selbst. Eine traditionelle Süßspeise sind die "churros con chocolate caliente", ein in langen Stangen angebotenes Spritzgebäck, das man in heiße Schokolade taucht. Besonderheit im "Tortoni": Diese wird gereicht in alten Kupferkännchen mit Monogramm, also großem "T". Und natürlich gibt es als Bedienung nur Kellner – und selbstverständlich tragen diese einen klassisch schwarzen Anzug, weißes Hemd und schwarze Fliege.

An manchen Tagen ist es nicht leicht, überhaupt ins "Tortoni" hineinzukommen – immer dann, wenn es von mehreren Touristenhorden gleichzeitig gestürmt wird. Kleiner Tipp: Je klassischer man sich anzieht und je höflicher man sich verhält, desto eher bekommt man in dem Traditionshaus einen Platz und desto besser wird man bedient.

In der Kolumne "Luftpost aus ..." berichten unsere Korrespondenten jede Woche aus einer anderen Weltstadt.

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