Es gleicht einem Märchen, ein WM-Neuling träumt vom Höhenflug. Nach den überzeugenden Auftritten von Bosniens Fußball-„Drachen“ in der Qualifikation und nach erstaunlichen Spielen in der Vorbereitung fiebern die Fans in der Heimat nun ungeduldig der Premiere entgegen. Bosnien und Herzegowina, ein Land mit 3,8 Millionen Einwohnern, ist bei der WM in Brasilien vertreten. Und gleich zum Auftakt wartet ein Hit: das Spiel gegen Argentinien, ein Vergleich mit Lionel Messi.
Die Generalproben sind dem angriffslustigen Team geglückt. Mit der Elfenbeinküste (2:1) und Mexico (1:0) spielten Bosniens „Drachen“ während ihres Trainingslagers in Chicago auf dem Weg nach Brasilien gleich zwei erfahrene WM-Teilnehmer knapp, aber sehr überzeugend vom Feld. Gegen die U21 des FC Santos gab es ein 5:1. „Ich glaube, wir sind bereit“, zog Erfolgscoach Safet Sušić im WM-Quartier in Guarujá, unweit von São Paulo, zufrieden ein Resümee. „Nun wollen wir der Welt zeigen, dass wir keineswegs zufällig hier sind.“
Folgen des Jugoslawien-Krieges. Lange hat die fußballbegeisterte Vielvölkernation vergeblich der Tickets für ein großes Turnier harren müssen. Während sich Kroatien, Serbien und Slowenien nach Ende der Jugoslawien-Kriege der 1990er-Jahre regelmäßig für Europa- und Weltmeisterschaften qualifizierten, blieb Spielern und Fans im kriegsgebeutelten Bosnien nur die undankbare Rolle der Kürbiskerne kauenden Fernsehzuschauer.
Schon vor der WM 2010 und der EM 2012 schien das Team um Superstar Edin Džeko (28/Manchester City) sich dem großen Ziel zu nähern. Doch die „Drachen“ scheiterten zwei Mal en suite in den Play-off-Spielen an ihren eigenen Nerven – und Angstgegner Portugal. Doch in der Qualifikation zur WM in Brasilien ließ die Equipe von Kapitän Emir Spahić (30/Bayer Leverkusen) als Gruppenerster mit nur einer Niederlage und 30:6-Toren in zehn Spielen nichts anbrennen. Er freue sich vor allem für seine älteren Spieler, bekannte hernach Sušić, 59. „Es wäre traurig gewesen, wenn solch gute Spieler in ihrer Karriere nie eine WM gespielt hätten.“
Zwar ist für die Veteranen im Team wie Kapitän Spahić oder den Ex-Wolfsburger Zvjezdan Misimović die WM möglicherweise tatsächlich die letzte Chance, auf der internationalen Fußballbühne noch einmal brillieren zu können. Doch dabei zu sein allein ist für den ehrgeizigen WM-Neuling nicht genug. „Wir haben eine gute Mannschaft und den festen Willen, in das Achtelfinale einzuziehen“, so die klare Zielvorgabe von Trainer Sušić.
Nicht nur Einsatzwille, sondern vor allem kombinationssicherer Angriffsfußball zeichnete das Spiel der „Drachen“ aus. Im Tor gilt Asmir Begović (26/Stoke City) als verlässlicher Rückhalt der Abwehr um Kapitän Spahić. Antreiber im Mittelfeld ist Senad Lulić (28/Lazio Rom). Ideengeber und Spielmacher Misimović agiert direkt hinter der von Džeko und Vedad Ibišević (29/Stuttgart) gebildeten Doppelspitze. Während Sušić das Team in der Qualifikation stets mit zwei Stürmern auflaufen ließ, hat er in der Vorbereitung mit nur einem Stürmer getestet: Es könne bei der WM Spiele geben, bei denen aus dem Mittelfeld kommende Angreifer gefragt seien. Das ersehnte Achtelfinale scheint für die Bosnier auch erreichbar: Nach Argentinien sind Nigeria und der Iran durchaus schlagbar.
Euphorie nach dem Hochwasser. Hatte die Hochwasserkatastrophe im Mai das seit Monaten pulsierende WM-Fieber zwischen Save, Bosna und Drina zeitweise merklich getrübt, haben nicht nur die Benefizeinsätze, sondern auch die überzeugenden Auftritte der „Drachen“ in der Vorbereitung die Euphorie neu entfacht: Zumindest der muslimische Teil des geteilten Landes fiebert sehnsüchtig der WM-Premiere gegen Argentinien entgegen.
Auf der Site der größten Zeitung „Dnevni Avaz“ werden die Sekunden bis zu Bosniens WM-Spiel schon seit Monaten gezählt. „Seit dem Krieg haben die Leute ein sehr schweres Leben gelebt“, sagt Goalgetter Ibišević. „Der Fußball ist wie ein Pflaster auf die Wunden – und lässt zumindest zeitweise die Probleme vergessen.“ Superstar Džeko heizt die Euphorie bei den Fans in der Heimat und der bosnischen Diaspora in aller Welt mit seiner von über einer Million Landsleuten verfolgten Facebook-Seite persönlich weiter an. „Träume erfüllen sich“, so die jüngste Botschaft des Hoffnungsträgers der Nation aus Brasilien. „Alles oder nichts: Es ist Zeit, Geschichte zu schreiben.“ Argentinien und Messi haben allerdings gewiss andere Pläne.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2014)