Boca – River: Der Hyper-Clásico

Einer Fußballnation tut man keinen Gefallen, wenn man sie auf zwei rivalisierte Teams reduziert. Ob Spanien oder Schottland, Chile oder Uruguay – das große Derby eines Landes mag mit riesiger Strahlkraft punktuell ein bisweilen internationales Interesse auslösen. Gleichzeitig stellt es aber den Rest der Liga dermaßen in den Schatten, dass in dieser Dunkelheit der Mittelbau abstirbt.

In Argentinien ist dies anders. Auch wenn in Europa häufig nur Boca Juniors, River Plate und ihr brisantes Duell wahrgenommen werden, ist gerade Buenos Aires von einer bipolaren Fußballlandschaft weit entfernt. Als früher am Río de la Plata noch mehrere Ligaspiele parallel ausgetragen wurden, konnte es durchaus passieren, dass zeitgleich zu einem Superclásico in den Stadtteilen Avellaneda, Bajo Flores oder Mataderos hunderttausende Fans auf einer Tribüne ihre Mannschaft anfeuerten. Und ihnen war dabei "das große Derby" vollkommen egal.

Punktgleich an der Ligaspitze

Aber! Aber gerade ist mal wieder alles anders. Zwischen Boca und River kommt es nun innerhalb weniger Tage zu gleich drei Duellen, die mehr als die zwei Drittel aller Argentinier, welche sich als Fan einer der beiden Teams bezeichnen, mitreißen. Zum Auftakt empfängt am kommenden Sonntag (23:15 Uhr im weltfussball-Liveticker) Boca als Tabellenführer den punktgleichen Erzrivalen in der "Bombonera". Eigentlich schon Anlass genug für Fußballtouristen und Sportjournalisten aus aller Welt nach Buenos Aires zu pilgern.

Dabei stand die Austragung in diesen Tagen sogar kurz auf der Kippe. Kurioserweise hatte nämlich ein (kürzlich neubesetztes) Gericht ein seit drei Jahren gültiges Stadionverbot für die beiden Anführer von Bocas "Barra Brava", Mauro Martin und Rafael Di Zeo, ausgesetzt. Der Nationale Sicherheitssekretär Sergio Berni war außer sich: "Wenn Boca sein Hausrecht nicht ausübt, wird nicht gespielt." Die Vereinsführung von Boca Juniors gab gegenüber den Sicherheitsbehörden klein bei. Allerdings auch gegenüber den mehrfach verurteilten Kriminellen. Denn der Ausschluss der "großen Koalition" von Martin und Di Zeo wird gleich nach dem Ligaderby ausgesetzt.

Die alte Führungsriege von "La Doce" kehrt zurück

So können die beiden im Rückspiel des Achtelfinals der Copa Libertadores wieder die Fäden von Bocas zwölftem Mann "La Doce" ziehen. Zunächst kommt es aber zum Duell in Rivers "Estadio Monumental" (8. Mai, 2:00 Uhr im weltfussball-Liveticker). Die "Millonarios" haben sich derweil im Ticketverkauf einen kleinen Spaß erlaubt und auf einer ersten Edition der Eintrittskarten den Namen des Gegners nur in Kleinbuchstaben abgedruckt. Der Klub entschuldigte sich in aller Öffentlichkeit und verspricht entschieden "die Schuldigen innerhalb des Vereins ausfindig zu machen".

Angesichts des Verbots von Auswärtsfans verbreiten auch die Vereine relativ friedliche Stimmung. Zuletzt kam es im Rahmen einer karitativen Veranstaltung sogar zum Handschlag zwischen Bocas Daniel Osvaldo und Rivers Leonardo Ponzio. Eine nette, wenn auch unübliche Geste, die allerdings die Anspannung aller Protagonisten auch nicht verbergen kann. Für Osvaldo wird es der erste Superclásico seiner Karriere, wenngleich er "im Kopf das Spiel schon 340 Mal durchgespielt" hat. Und natürlich hat er auch geträumt, ein Tor zu erzielen.

Das Duell schlägt Wellen bis nach Italien

Wie er es wohl feiern würde? Vielleicht wie 2004 Carlos Tévez, der nach seinem Treffer im Monumental wie ein aufgescheuchtes Huhn über den Platz flatterte. Eine eindeutige Provokation der Anhänger von River Plate, die den Spitznamen "gallinas" ("Hühner") tragen. Der nun anstehende "Hyper-Clásico" hat derzeit eine so große Strahlkraft, dass Tévez zuletzt den Jubel nach einem Treffer für Juventus wiederholte. Ihm war dabei egal, dass in Italien mit dieser Aktion keiner etwas anfangen konnte – die Botschaft war für die Freunde in der argentinischen Heimat.

Tévez, durch und durch "bostero", verlor vor wenigen Tagen das Turiner Derby mit Juve gegen den AC, wo ein gewisser Maxi López, durch und durch "gallina", mit von der Partie war. Für Argentiniens Sportpresse war dieser Antagonismus Grund genug, das Duell der beiden als Vorspiel zu Boca-River zu inszenieren. Bei Tevéz' Hühnerjubel 2004 im Halbfinale der Copa Libertadores stand nämlich auch Maxi López auf dem Platz – und vergab im anschließenden Elfmeterschießen den entscheidenden Strafstoß. "Das war der schlimmste Tag meines Lebens", erinnerte er sich zuletzt. Eine unmissverständliche Definition der Bedeutung dieses Duells.

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Teil 6: América de Cali: In der Hölle
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Für weltfussball berichtet aus Südamerika: Viktor Coco

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