Bad Homburg. –
Die Zeugen Jehovas sind eine Religionsgemeinschaft innerhalb des christlichen Glaubens.
Es ist ein großer Schritt von Bad Homburg nach Argentinien. Sonja Rietdorf wagt ihn, am 2. Februar ist Abflug in Richtung Südamerika. Die 23-Jährige macht dort keinen Urlaub. Sie hat ihren Arbeitsvertrag bei der Stadt auslaufen lassen und bricht zumindest vorübergehend alle Zelte in Bad Homburg ab. Sie begibt sich auf eine nicht unumstrittene Mission. Sie ist unterwegs im Namen der Zeugen Jehovas.
Wenn man sich mit Sonja Rietdorf im Café trifft, sitzt man einer jungen, redegewandten Frau gegenüber. Einer Frau, die sich auf ihr Abenteuer freut. Zusammen mit vier Freundinnen wird sie in den kommenden Monaten in Leandro N. Alem nahe der Grenze zu Paraguay leben. Für ihre Begleiterinnen ist nach drei Monaten Schluss, Sonja bleibt mindestens noch sechs weitere Monate. Wie lange ihr Aufenthalt insgesamt dauert, „hängt auch davon ab, wie die Beziehung zu meinem Freund die Trennung aushält“, sagt sie. Die Liebe ist noch recht frisch, besteht seit einem knappen halben Jahr.
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Man sitzt im Café auch einer Frau gegenüber, die – aus Oberbayern stammend – in Bad Homburg angekommen schien. Sie hatte hier eine Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten absolviert und anschließend im Büro der Stadtverordneten gearbeitet. Ihr befristeter Vertrag sollte in einen unbefristeten umgewandelt werden, ihre Vorgesetzten sind von ihr und ihrer Arbeit begeistert. Das brachte Holger Fritzel, Stadtverordnetenvorsteher und Rietdorfs Vorgesetzter, im Dezember zum Ausdruck, als Rietdorf bei einer Stadtverordnetenversammlung öffentlich verabschiedet wurde. Man sei sehr traurig, eine fähige Mitarbeiterin zu verlieren, war von vielen Seiten zu hören.
Aber die junge Frau hatte sich nun einmal gegen den unbefristeten Vertrag und für ihre Überzeugung entschieden. Zu der kann man geteilter Meinung sein, nicht immer sind Zeugen Jehovas wohlgelitten. Das Bild der Glaubensgemeinschaft ist oft geprägt von Leuten, die an Haustüren die Bewohner von ihrem Glauben überzeugen wollen, und älteren Damen, die in der Fußgängerzone den „Wachtturm“ anbieten.
Sonja Rietdorf fühlt sich in ihrer Gemeinschaft wohl. Sie mag es, ihr Leben konsequent nach der Bibel auszurichten. Auch wenn das bedeutet, dass Bluttransfusionen abgelehnt und Homosexualität und vorehelicher Sex als Sünde betrachtet werden.
Was die Wahl-Bad Homburgerin in Leandro N. Alem genau erwartet, weiß sie noch nicht. Sie erhofft sich weniger Ablehnung als an vielen Haustüren in Deutschland, freut sich auf Reisen innerhalb Argentiniens – zum Beispiel zu den Iguazu-Wasserfällen, nach Buenos Aires oder in den Süden – und scheut sich auch nicht vor Begegnungen mit möglichen Alt-Nazis, die in Südamerika eine neue Heimat gefunden haben. Unter den Nazis wurden Jehova-Zeugen als „Bibelforscher“ verfolgt und umgebracht.
Rietdorfs Rückkehr nach Bad Homburg ist ungewiss. Die Stadtverwaltung hat ihr zwar in Aussicht gestellt, jederzeit einen Job zu bekommen, sobald sie wieder in Deutschland ist. Auf die Erfahrung und Kompetenz der jungen Frau wolle man nur ungerne verzichten.
Aber da ist ja noch der Freund von Sonja Rietdorf, der in der Nähe von Hannover lebt. Und so kann es auch sein, dass der Gang durch die Bad Homburger Fußgängerzone gestern einer ihrer letzten war.