Der Stadtteil La Boca in Buenos Aires ist in Europa vor allem durch seinen Fußballclub, die Boca Juniors bekannt, bei dem einst die Fußballlegende Diego Maradona spielte. Aber nicht nur für Fußballfans ist La Boca interessant: Tango und Literatur spielen hier auch eine wichtige Rolle.
Auf dem caminito, dem »kleinen Weg«, einem der touristischen Zentren der argentinischen Hauptstadt, reihen sich die Tango-Bars aneinander. Zu fast jeder Tageszeit geben hier Tänzer und Tänzerinnen im klassischen Tango-Outfit ihr Können zum Besten. Die kleinen verwinkelten Häuser in dieser Straße sind in den unterschiedlichsten Farben bemalt, was ursprünglich einmal daran lag, dass die Leute, die sich die Farben nicht leisten konnten, auf die Reste zurückgreifen mussten, die von der Bemalung der im Hafen liegenden Schiffe übrig blieben. In diesem Viertel lebten im 19. und 20. Jahrhundert viele europäische Auswanderer, viele von ihnen kamen aus Italien, die meisten aus Genua. La Boca gehört schon lange zu den ärmeren Stadtteilen der argentinischen Hauptstadt.
Das wird jenseits des caminito und der daran angrenzenden Gassen deutlich. Hier finden sich immer noch bunte, manchmal mit Wellblech verkleidete Häuser. Die Farben sind allerdings oft verblasst. Erblassen dürfte auch so mancher Architekt angesichts der windschiefen Statik dieser Gebäude. Die Infrastruktur ist hier zwar bei weitem nicht so mangelhaft wie in den beständig wachsenden Slums von Buenos Aires, die in Argentinien villas genannt werden, doch fällt der Unterschied zu den bürgerlichen Stadtteilen im Norden der Stadt deutlich ins Auge.
Über die selten mehr als zweistöckigen Altbauten erhebt sich La Bombonera, die »Pralinenschachtel«, wie das legendäre Fußballstadion genannt wird, das eigentlich Estadio Alberto Jacinto Armando heißt. In diesem rechteckigen Stadion tragen die Boca Juniors ihre Heimspiele aus.
Im Schatten dieser Arena, nur eine Straße weiter, wird in einem Eckladen die literarische Tradition der argentinischen Arbeiterklasse fortgeführt. In der Werkstatt des Verlags Eloísa Cartonera werden die Bücher per Hand gemacht. An diesem Nachmittag sitzen drei Personen an einem Tisch und bemalen Buchdeckel aus Karton. Zwei weitere sind damit beschäftigt, Karton zurechtzuschneiden und ihn an den mit Texten bedruckten Seiten zu befestigen. Auf den Regalen stehen zahlreiche, in allen möglichen Farben bemalte Bücher. An den Wänden und von der Decke hängen bunte Figuren und Bilder, Porträts von Evita und Juan Domingo Perón, Che Guevara und Evo Morales. Ein Wimpel und eine Fahne der Boca Juniors, in kräftigem Blau und Gelb, dürfen auch nicht fehlen.
Insgesamt herrscht hier ein verspieltes Farbenchaos, das sich aus zahlreichen Details zusammensetzt. Davon heben sich nur die Funktionsbereiche der Werkstatt etwas ab: die Bücherregale und die Tische, auf denen gemalt, geschnitten und geklebt wird.
Als einer der Mitarbeiter erfährt, woher der heutige Besuch stammt, zeigt er auf ein Buch, das im Regal steht. Der zweisprachige Titel lautet: »Resto del Mundo – Rest der Welt«, es handelt sich um eine Sammlung von Kurzgeschichten über Fußball. Anlass für die Veröffentlichung der zweisprachigen Anthologie war das Freundschaftsspiel der argentinischen Autorennationalmannschaft gegen die deutsche bei der Frankfurter Buchmesse 2010. Argentinien war damals Gastland der Buchmesse. Die Spieler haben die Kurzgeschichten verfasst.
In einer Geschichte beschreibt der argentinische Dramatiker Rafael Spregelburd etwa, wie es ihm eine Zeitlang gelungen war, sich ein Leben jenseits des Fußballs aufzubauen, was innerhalb der argentinischen Gesellschaft, in der jeder und jede »einen Club hat«, unabhängig davon, ob man sich wirklich für den Sport interessiert, unvorstellbar erscheint. Dann aber forderten ihn einige deutsche Autoren dazu auf, ein argentinisches Autorenteam zusammenzustellen. Also blieb er am Ball.
Über Washington Cucurto gehen in der argentinischen Literaturszene die Meinungen auseinander. Für manche ist er ein Kult-Underground-Autor, das literarische Establishment hält ihn eher für vulgär und pornograpisch. Der international bekannte Schriftsteller Ricardo Piglia hat ihn etwa mit Roberto Arlt verglichen. Arlt war in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Mitglied des Grupo Boedo, einer Gruppe sozialistisch orientierter Künstler, die in ihren Werken die Lebenswelt der Arbeiterklasse schilderten, im Gegensatz zur argentinischen Literaturikone Jorge Luis Borges, dessen Literatur als charakteristisch für die Oberschicht wahrgenommen wurde. In Texten von Arlt sowie in denen von Cucurto geht es viel um die Migrantinnen und Migranten, die einst aus Italien und Spanien nach Buenos Aires kamen und heute aus Bolivien, Paraguay, Peru oder der Dominikanischen Republik stammen.
Im argentinischen Rolling Stone sagte Cucurto über sein jüngstes Buch, »Basta de escribir novelas!«, darin gehe es um Dinge, »die im alltäglichen Leben passieren«. Cucurto mischt in seinen Texten die schmutzige Sprache der Straße mit der feinen Sprache der Hochkultur. Dies hat dazu geführt, dass ihm in der gehobenen Literaturszene Argentiniens bis heute die Anerkennung verwehrt bleibt.
Der Schriftsteller gehört zu der Gruppe argentinischer Literaten, die den Do-it-Yourself-Verlag Eloísa Cartonera im Jahr 2003 gegründet haben. Er ist das bekannteste Mitglied des Literaturkollektivs und, ob gewollt oder nicht, so etwas wie dessen Aushängeschild.
Ein weiteres Mitglied ist der Dichter Ricardo Daniel Piña, der bereits seit neun Jahren dabei ist und inzwischen drei Gedichtbände bei Eloísa Cartonera veröffentlicht hat. »Morgens schreibe ich, nachmittags komme ich hierher, um die Bücher herzustellen und sie zu verkaufen. So verfolge ich den gesamten Produktionsprozess vom Beginn bis zum Ende. Nicht nur einen Teil, wie es sonst üblich ist.«
Sechs Tage die Woche komme er in die Werkstatt, doch »allein von dem, was ich hier verdiene, kann ich nicht leben«, sagt er. Was ihm am Ende des Monats übrig bleibe, entspreche nicht einmal dem argentinischen Mindestlohn von umgerechnet 430 Euro. »Das geht bei mir nur deshalb, weil ich nach einem Verkehrsunfall berufsunfähig geworden bin und eine Rente beziehe, mit der ich meine Wohnung bezahlen kann«, erzählt Piña, die übrigen Lebenshaltungskosten decke er mit den Einnahmen aus dem Verlag. »Für mich ist Eloísa ein Lebensgefühl, eine reine Erfahrung«, sagt er, trinkt von seinem Matetee und fährt fort: »Viele sehen hier ein Modell für eine bessere Gesellschaft, aber die meisten Leute, die hier arbeiten, sehen das nicht so. Für sie ist es einfach eine alltägliche und notwendige Arbeit.«
Dass der Verlag den Ruf genießt, die Vorhut einer besseren Welt zu sein, liegt unter anderem daran, dass die Bücher aus Papiermüll hergestellt werden. Dieser wird von den cartoneros gesammelt, den Müllsammlerinnen und -sammlern, die jeden Abend mit riesigen Handkarren die breiten, völlig überfüllten Straßen Buenos Aires entlanglaufen, um Kartonreste einzusammeln, und sie dann zu verkaufen. Der Verlag ist ein Abnehmer der Papiersammlerinnen und -sammler. »Der cartonero ist sehr wichtig für Eloísa«, sagt Piña. Im Zuge der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise, die im Dezember 2001 ausbrach, sahen sich viele Menschen gezwungen, in der Stadt nach Müll zu suchen. Diese »Neuarmen«, wie sie genannt wurden, konnten sich irgendwann nicht mehr mit den Müllkippen als Arbeitsplatz zufrieden geben. Sie zogen in die Innenstadt, auch in die besseren Viertel, und machten die Krise so sichtbar.
Die Gründung von Eloísa Cartonera im Jahr 2003 stand im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen. Bis heute bezahlt der Verlag den cartoneros das Fünffache des üblichen Marktpreises. Mittlerweile sammeln die cartoneros immer mehr Metall und Plastik. »Die Metall- und Plastikpreise sind eben wesentlich höher«, sagt Piña, der das cartonero-Business als eine etablierte und durchorganisierte »Niedrigstlohnbranche« beschreibt.
Was muss ein Autor oder eine Auotrin machen, um bei Eloísa Cartonera veröffentlicht zu werden? »Sie schicken uns eine PDF-Datei und zahlen einen Unkostenbeitrag. Die Rechte an den Texten bleiben bei den Autorinnen und Autoren. Das ist alles«, sagt Piña. Im Verlag wird es gerne gesehen, wenn sich die Autorinnen und Autoren an der Gestaltung und Herstellung ihrer Bücher beteiligen. Diese sind anschließend bei Eloísa Cartonera sehr preisgünstig zu erstehen, auch nach argentinischen Maßstäben. Das Buch der deutsch-argentinischen Autorenmannschaften (202 Seiten) kostet etwa sechs Euro.
Entsprechend der Ursprungsidee veröffentlichen bei Eloísa immer noch vor allem unbekannte Autorinnen und Autoren aus Lateinamerika, die sich dem direkten, oft vulgären Stil der Underground-Literatur verpflichtet fühlen. Die Zielgruppe dieser Texte sind vor allem Studierende, eine Gruppe, der in Argentinien nach wie vor der Ruf von Freiheitskämpferinnen und -kämpfern anhaftet.
Im Regal unter dem Bild, das General Perón und Evita zeigt, steht ein Buch mit dem Titel »Evita vive« (Evita lebt). Es handelt sich um eine Kurzgeschichte, deren Protagonisten ein Sexarbeiter und die argentinische Nationalheilige Eva Duarte sind. »Evita« ist hier auf der Suche nach käuflichem Sex. Der Ich-Erzähler ist ebenfalls ein Stricher. Die drei landen gemeinsam in einem Hotelzimmer, wo der Geschlechtsakt gleich mehrere Male und in verschiedenen Konstellationen vollzogen wird. Alles wird detailliert beschrieben. Der Ich-Erzähler beklagt sich zwischendurch über den Leichengeruch, der im Raum hängt. Der Autor dieser Kurzgeschichten hieß Néstor Perlongher und war von Beruf Soziologe. Er war ein Libertärer, der sich insbesondere für Homosexuellenrechte einsetzte und 1992 in jungen Jahren starb. »Evita vive« schrieb er bereits im Jahr 1975. Veröffentlicht wurde das Buch allerdings zunächst nur auf Englisch. Erst 1987 erschien eine spanische Fassung in Buenos Aires, die den vorhersehbaren Skandal auslöste.
An dem Tisch, an dem Kartonbücher bemalt werden, sitzt Alice, eine Neuseeländerin, die derzeit in Buenos Aires lebt und Englischunterricht gibt. Sie bemalt ein Buch mit dem Titel »El Arte Nazi« (Die Nazikunst). »In meiner Freizeit komme ich regelmäßig hierher, um Bücher zu bemalen«, erzählt sie, »das ist sehr entspannend.« Außerdem versucht sich noch ein ungefähr zwölfjähriges Mädchen aus der Nachbarschaft an den Buchdeckeln.
Es wird langsam dunkel. Die Straßen in der Gegend sind für Buenos Aires ungewöhnlich ruhig. Ein Straßenköter überquert den Weg gemächlich. Das würde er in vielen anderen Stadtteilen kaum überleben. Für die Kinder der Nachbarschaft gibt es hier ausreichend Platz zum Spielen. Raum beanspruchen allerdings auch die Straßengangs, die die Jugendlichen aus La Boca gerne rekrutieren. Ein Stadtteil voller Widersprüche und gleichzeitig Inspiration für die Macherinnen und Macher von Eloísa Cartonera.
Teilen: Facebook Twitter Weitere
Open all references in tabs: [1 - 4]