Argentinier wollen den Wandel – WESER

Es ist ein Indiz dafür, wie sehr die Entscheidung am Sonntag zwischen dem Herausforderer Macri (56) und dem Regierungskandidaten Scioli (58) die Argentinier bewegt. Schließlich steht die drittgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas vor einer der wichtigsten Wahlen seit der Rückkehr zur Demokratie 1983. Es geht um die Frage, ob die Argentinier nach zwölf Jahren eines linksnationalistischen Projekts mit restriktiver staatsmonopolistischer Wirtschaftspolitik, einem massiven Ausbau der Sozialleistungen und einem ausufernden Präsidentialismus einen Wechsel wollen.

Macri, Bürgermeister von Buenos Aires, steht nicht nur für eine Wende nach rechts, sondern auch für eine Öffnung des Landes. Er will auf die internationalen Finanzmärkte zugehen, die dem Land seit einem Jahr wieder verschlossen sind. Er will sich Europa und den USA annähern und weg von China und den linksnationalistischen Projekten Lateinamerikas, vor allem von Venezuela und Bolivien. Wichtiger aber noch scheint zu sein, dass der Kandidat des Parteienbündnisses „Cambiemos“ (Auf zum Wechsel) nach innen einen Wandel der politischen Kultur verspricht. Weniger Autoritarismus und weniger Polarisierung.

Wenn man in diesen Wochen die Menschen in Buenos Aires danach fragt, was die größten Kritikpunkte an der scheidenden Regierung von Präsidentin Cristina Kirchner sind, hört man neben der hohen Inflation und der steigenden Kriminalität vor allem auch Klagen über den selbstherrlichen und aggressiven Politikstil. Kirchner hat das Land unversöhnlich in Gegner und Befürworter ihrer Politik gespalten. Sie setzt ständig auf Angriff.

Dessen sind Millionen Argentinier ebenso überdrüssig wie der Tatsache, dass die Kirchner-Familie in den Regierungsjahren von Néstor (2003 bis 2007) und Cristina (2007 bis 2015 ) zu einem Reichtum zweifelhaften Ursprungs gekommen ist. „Argentinien hat sich zu einem Venezuela light entwickelt“, fasst der politische Beobachter Rosendo Fraga die Kritik zusammen. Viel politischer Diskurs und Doktrin, viele Vorschriften und Verbote, aber kaum Lösungen für die wichtigen Probleme wie Drogenhandel, fehlende Arbeitsplätze, ungesundes Wirtschaftswachstum und sinkende Qualität der Bildungseinrichtungen.

In die gleiche Richtung geht die Kritik des Schriftstellers Martín Caparrós. Zwölf Jahre „Kirchnerismo“, jene Mischung aus Populismus, Pragmatismus und Personenkult, hätten Argentinien kaum nach vorne gebracht. Das Land stehe heute kaum besser da als 2002 nach der großen Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Zahl der Armen ist trotz der Milliarden-Einnahmen aus dem Rohstoffboom sogar leicht auf rund 27 Prozent gestiegen. Statt genügender Arbeitsplätze wurden die Sozialprogramme aufgelegt, die wie „Geschenke“ verteilt wurden, betont Caparrós. „Im Gegenzug erwartet die Regierung Stimmen bei den Wahlen.“ Bisher eine absolute Win-win-Situation.

Aber diese Gleichung – das ist die Lehre aus der ersten Runde der Präsidentenwahl am 25. Oktober – geht nicht mehr auf. Die größten Stimmenverluste erlitt die „Frente para la victoria“ (Siegesfront) um den Kandidaten Scioli in den Hochburgen der Kirchners. Im Großraum Buenos Aires, in den Arbeiter- und Armutsgürteln. Dort machen sich die steigende Kriminalität, die Arbeitslosigkeit und die Entwöhnung der Menschen von der Arbeit am meisten bemerkbar. Dort leben die meisten der 18 Millionen Argentinier, die in den Genuss eines oder mehrerer der staatlichen Sozialprogramme kommen. Aber die Botschaft der ersten Runde ist: Das reicht den Menschen offenbar nicht mehr. Sie wollen weniger Inflation, mehr Sicherheit, weniger Doktrin und mehr Demokratie.

Und bei Daniel Scioli, bis dato Gouverneur der Provinz Buenos Aires und Kandidat von Cristina Kirchners Gnaden, ist den Argentiniern eben nicht klar, ob sie den Wandel bekommen, den sie wünschen. Er ist ein schwacher Bewerber ohne Charisma und eigenem Standing. Er wurde zwar von Cristina Kirchner implementiert, aber nie wirklich unterstützt. Viele Menschen denken, Scioli würde am Ende nur das umsetzen, was die dann ehemalige Präsidentin will. Die Chancen dafür sehen allerdings nicht zu gut aus. Die Umfragen sagen einen komfortablen Vorsprung für seinen Widersacher Macri voraus. Rund sechs Prozentpunkte beträgt der Vorsprung selbst in den konservativsten Umfragen.

Die Debatte am vergangenen Sonntag erhellte die Argentinier am Ende wenig. Ein selbstsicherer und angriffslustiger Herausforderer Macri und ein hölzerner Scioli, der oft wie ein in die Ecke gedrängter Boxer wirkte. Punktsieger war am Ende Macri. So wie vermutlich am Sonntag auch.

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