Wer sich auf konkrete Weise mit makroökonomischen Lehrsätzen vertraut machen möchte, studiert am besten die Wirtschaftsgeschichte Argentiniens der letzten zweihundert Jahre. Denn vieles, leider allzu vieles ist schief gelaufen in jenem Land – und gerade daraus lässt sich einiges lernen.
Noch vor dem Ersten Weltkrieg traute man Argentinien zu, den Lebensstandard der Europäer und Nordamerikaner zu erreichen. Heute ist es ein typisches Schwellenland, das den Anschluss an den OECD-Club verpasst hat.
Die Tabelle zeigt die Entwicklung im Vergleich zu den USA (Quelle). Um 1800 war der Lebensstandard Argentiniens auf demselben Niveau wie derjenige der USA, um 1900 nur noch halb so hoch, am Ende des 20. Jahrhunderts dreimal niedriger. (Die USA haben immer den Wert 100).
Wie lässt sich dieser Abstieg erklären? Ein Grundproblem ist zweifellos die ungleiche Landverteilung, die aus der Kolonialzeit stammt und nie beseitigt wurde. Denn Grossgrundbesitzer sind immer eine Hypothek für die Modernisierung eines Landes. Ungleiche Landverteilung bremst die Industrialisierung, Alphabetisierung, Demokratisierung und die Entwicklung des Rechtsstaats. Das lässt sich nicht nur in Argentinien, sondern in vielen Ländern beobachten.
Die Tabelle zeigt das Ausmass der Konzentration des argentinischen Landbesitzes vor hundert Jahren. Die Unterschiede sind frappant. Selbst in den Südstaaten der USA, wo die Plantagenwirtschaft weit verbreitet war, gab es keine vergleichbare Landkonzentration. Nur in Mexiko war der Landbesitz noch stärker konzentriert.
In jüngster Zeit lief in Argentinien besonders viel schief. In den 1980er-Jahren explodierte die Inflation, worauf man den Peso an den US-Dollar band. Das brachte zwar monetäre Stabilität, würgte jedoch das Wirtschaftswachstum ab, als sich der US-Dollar ab 1995 stark aufwertete und die US-Zinsen stiegen. Ende der 1990er-Jahre rutschte das Land in eine schwere Rezession, im Dezember 2001 erklärte das Land einen Teilbankrott, im Januar 2002 löste es die Bindung an den US-Dollar auf.
Die darauf folgende Abwertung beendete zwar die Rezession, doch die Regierung konnte die wieder auftretende Inflation nicht in den Griff bekommen. Das Ehepaar Kirchner weigerte sich in bester peronistischer Tradition, die geldpolitischen Bremsen zu betätigen. Kein Wunder, wurde Cristina Fernández de Kirchner in den jüngsten Wahlen abgewählt. Auf die Dauer bringt hohe Inflation jede Regierung zu Fall. Die Grafik verdeutlicht die beiden Wendepunkte Ende der 1980er Jahre und anfangs der 2000er Jahre.
Die neue Regierung unter Präsident Mauricio Macri probiert nun, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Ein neues Experiment beginnt. Wird es diesmal gelingen?
Es gibt ermutigende Zeichen. Erstens hat die argentinische Regierung die Zentralbank wieder unabhängig gemacht und einen kompetenten Chef eingesetzt. Zweitens versucht sie, die Defizite des öffentlichen Haushalts in den Griff zu bekommen. Drittens hat sie die Wirtschaft steuerlich entlastet.
Das Kalkül von Macri ist, dass die eingeleiteten Massnahmen das Wirtschaftswachstum so stark ankurbeln, dass die Sanierung des Haushalts sozial verkraftet werden kann. Dies wiederum soll den nötigen Rückhalt für institutionelle Reformen geben.
Niemand würde darauf wetten, dass das Experiment gelingen wird. Aber immerhin wird der Versuch unternommen, Argentinien wieder auf Kurs zu bringen. Und wenn es allen Widrigkeiten zum Trotz gut herauskommen sollte, könnte man für einmal vom Erfolg des Landes lernen.