Sie wurde von Fans erbaut und brachte Stars wie Luciano Vietto und Sergio Romero hervor. Die faszinierende Geschichte das Nachwuchsakademie Tita Mattiussi.
Früher war es Diego Maradona, in den vergangenen Jahren Lionel Messi. Aktuell streben vielversprechende Youngster wie Atletico Madrids Luciano Vietto, Angel Correa oder Paulo Dybala von Juventus Turin an die Spitze des Weltfußballs. Argentinien ist und bleibt eine Fußballnation, die Hochkaräter am Fließband produziert.
Für gewöhnlich hat der Fan Bilder von ehrgeizigen Kindern, die auf Ödland ("Potrero") um das Leder kämpfen, vor Augen, wenn er daran denkt, wie argentinische Talente rund um Buenos Aires, Rosario oder anderen Städten das Einmaleins des Fußballs erlernen. Ein Stereotyp, der aber nur bis zu einem gewissen Punkt zutrifft.
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Sicher, das Gekicke in den Straßen und auf Bolzplätzen ist weiterhin der Nährboden für die neuen Messis, die neuen Maradonas. Im 21. Jahrhundert betreiben die Spitzenklubs des Landes allerdings hoch angesehene Jugendakademien. Sie mögen technisch nicht der letzte Schrei und nicht gerade luxuriös ausgestattet sein wie die Internate der europäischen Top-Vereine. Straff organisiert werden dennoch regelmäßig außerordentliche Talente herangezogen.
Racing Club bildet da keine Ausnahme. Das Internat "Tita Mattiussi" liegt nur wenige Kilometer vom Stadion in Avellaneda entfernt. Kinder und Jugendliche aller Altersklasse schuften hier für ihren Traum von der großen Karriere.
Eine Vereinsikone als Namensgeberin
Tita Mattiussi ist die Antwort der Stadt auf Barcelonas berühmte Nachwuchsakademie La Masia. Sie ist benannt nach einer Frau, die ihr Leben dem Verein widmete. Sie lebte im Stadion und übernahm alle Aufgaben, vom Waschen der Trikots bis zum Vorbereiten der Mahlzeiten für den Nachwuchs.
Was die Akademie so besonders macht: Sie verdankt ihre Existenz einzig den Fans des Vereins, die mit Blut, Schweiß und Tränen das Internat aufbauten. Es ist die einzige professionelle Nachwuchsschmiede der Welt, die von den Anhängern eines Vereins gegründet und sogar errichtet wurde.
Die Geschichte beginnt im Jahr 1998. Damals kämpfte Racing ums finanzielle Überleben, man stand kurz vor dem Bankrott. Ein Jahr später trat der Worst Case tatsächlich ein und La Academia musste dichtgemacht werden. Leonardo Tarrio, aktueller Chef der Tita, erzählt Goal: "Racings Kinder spielten mal hier und mal dort, sie hatten keinen Ort, an dem sie trainieren konnten.
Ein Journalist, Luis Otero, nahm sich der Sache an. "Mit einer Gruppe von Anwälten kämpfte er um ein Grundstück und einigte sich schließlich mit Ferrobaires (eine Eisenbahngesellschaft, Anm. d. Red.) und dem Club Argentino de Rugby", so Tarrio, "von da an arbeiteten wir von Montag bis Freitag auf dem Areal."
Zum Start ist alles noch primitiv
Der Ort, an dem sich Tita Mattiussi heute befindet, war ein brachliegendes Gelände, das einem mittlerweile aufgelösten regionalen Eisenbahnunternehmen gehörte. 1998 war es praktisch nicht mehr als eine ausgebrannte Lagerhalle inmitten von Gras und Geröll. Die Racing-Fans machten daraus ein schmuckes Trainingszentrum. Tarrio erinnert sich: "Der erste Rasenplatz wurde noch von Hand gesät und mit einem Gartenschlauch bewässert, mit dem sie zu Hause die Pflastersteine säubern."
Nach unzähligen Stunden harter Arbeit und vielen Spenden wurde der erste Platz im Jahr 2000 eröffnet. Aus der Lagerhallenruine, in der vorher ab und an Obdachlose Zuflucht gesucht hatten, wurde ein Klubhaus inklusive Kabinen, Büros und einer kleinen Kantine. Spult man ins Jahr 2015 vor, stehen den Nachwuchskickern fünf Trainingsplätze zur Verfügung. Ein weiterer soll noch in diesem Jahr eröffnet werden, ebenso wie ein Hockeyplatz.
Einer, der maßgeblich an der Erfolgsgeschichte von Tita Mattiussi mitgeschrieben hat, ist Marcelo Stones. Der Mann, dessen richtiger Nachname Betbese lautet, ist mittlerweile professioneller Pokerspieler. 1990 war er ein Gründungsmitglied der Fanorganisation "Racing Stones". Diese Gruppierung wollte die Unterstützung der "Barra-Brava"-Hooligans aufleben lassen - ganz ohne die Kriminalität und Mafia-ähnlichen Strukturen, die es in weiten Teilen der argentinischen Fankultur gibt, zu pflegen.
"Als ich in meiner Blüte war, hatte ich einen gewissen Einfluss auf die Fans und ich brachte sie dazu, herzukommen, mit an unserer Akademie zu arbeiten", erklärt Stones Goal. "Wir lebten damals nach Idealen. Wir besuchten jedes Spiel, aber wir nahmen keinen Peso vom Klub an. Wir waren gegen den damaligen Präsidenten und seinen Vorstand."
Racing Stones nahmen beim Erbau der neuen Akademie eine wichtige Rolle ein: Marcelo Stones und Tarrio waren Gründer der Genossenschaft, welche die Einrichtung später leiten sollte. Stones wurde ihr erster Präsident.
"Hey, wir bauen eine Akademie"
"Los Stones" und Racing arbeiteten erstmals wirklich zusammen, als die Anhänger das verfallene Klubgebäude in Buenos Aires anstrichen. Bekannt waren sie in der Öffentlichkeit allerdings vielmehr für ihr "Fiesta in der Kurve". Stones erzählt Geschichten von tausenden von Papierrollen, die vor einem Derby gegen Indepediente auf den Rasen flogen. Oder von 60 Fackeln, die beim denkwürdigen 6:4 in La Bombonera gegen Boca mit den Stars Maradona und Claudio Caniggia gezündet wurden.
Als "offizielle" Hooligan-Gruppe wollten Los Stones mit den Klubbossen nichts zu tun haben. Ihre Fiesta finanzierten sie durch Spenden "normaler" Fans am Spieltag. Dieses Wir-Gefühl spielte bei Tita Mattiussi eine große Rolle. "Zu der Gruppe, die damals anfing an der Akademie zu arbeiten, gehörten drei oder vier Stones. Aber es kamen Leute von überall. Ich ging über die Tribünen und sagte: 'Hey, wir bauen eine Akademie. Warum kommt Ihr nicht und helft uns am Samstag?'"
"Das war so etwa 1999. Unsere Gruppe funktionierte nicht mehr so gut. Wenn ich einen Jungen von den Stones bat, um zehn Uhr zu kommen, um Geröll wegzuräumen, kam er nicht, weil er sich nach einer durchzechten Nacht gerade ins Bett gelegt hatte", sagt Stones. "Aber mit den normalen Fans war das anders. Sie wollten sich die Chance nicht entgehen lassen, bei einem solchen Projekt mitzumachen. Es gab nur das Problem, ihre Motivation hochzuhalten. Wenn sie kamen und das Gelände sahen, schauten sich mich nämlich an und sagten: 'Du bist ja verrückt.'"
Stones rieb sich in dem Projekt auf, es entwickelte sich für ihn zu einem Vollzeitjob ohne Bezahlung: "Es gab da einen Punkt, an dem ich völlig die Orientierung verlor." Vom Verein gab es keine Unterstützung, zeitweise war sogar das Gegenteil der Fall, nachdem Racing in privaten Besitz gelangt war. Trotzdem schafften es die Fans, dass die Jugendmannschaften im Jahr 2000 den Spielbetrieb aufnahmen.
2009, nachdem die Demokratie bei Racing zurückgekehrt und Rodolfo Molina zum Präsidenten gewählt worden war, wurde die Akademie formell zurück an den Klub übergeben. Die Ergebnisse seitdem sind bemerkenswert.
"Diese Jungs machen den Unterschied"
Seit der Eröffnung hat die Tita Akteure wie Maxi Moralez, Luciano Vietto, die Zuculini-Brüder Bruno und Franco, Ex-Lyon-Star Lisandro Lopez sowie Argentiniens Rekord-Nationaltorhüter Sergio Romero hervorgebracht. Tarrio, der stolz auf die Identität ist, welche die Akademie vermittelt, schwärmt vor allem von Atalantas Shootingstar Moralez: "Er war großartig für uns. Er hat sehr viele Tore vorbereitet, ist ein toller Kreativspieler. Zahllose Treffer hat er den anderen Kids aufgelegt."
Und über Vietto, der im Derby gegen Real Madrid seinen ersten Treffer für Atletico erzielte, sagt er: "Man kennt die Jungs vom ersten Tag an. Da kann man sich nicht vorstellen, dass sie zu den Stars werden, die sie heute sind. Sie machen den Unterschied. Als Vietto zu uns kam, war er schon etwas älter. Er kam ablösefrei von Estudiantes. Diego Simeone sah ihn und war sofort überzeugt."
Nach Jahren unbeständiger Ergebnisse und wirtschaftlicher Nöte ist Racing durch die Nachwuchsarbeit zu einem der finanziell stabilsten Vereine in der stets chaotischen Welt des argentinischen Fußballs geworden. Das Geld, das man durch die Verkäufe von Vietto, De Paul und Zuculini einnahm, wurde klug in die Mannschaft investiert. Das Resultat: Im Dezember 2014 wurde der erste Meistertitel seit vielen Jahren errungen.
Und die Zukunft sieht nicht minder vielversprechend aus: Die Stürmer Lautaro Martinez und Braian Mancilla gelten als hochveranlagt, Regisseur Carlos Valenzuela wird eine famose Ballbehandlung á la Leo Messi nachgesagt. Zwei Tita-Schüler, Viettos kleinerer Bruder Federico und Linksverteidiger Matias Escudero, waren jüngst mit Argentinien bei der U17-Weltmeisterschaft.
Finanziell wird Racing nie mit großen Vereinen aus Europa mithalten können. Komfort, der für Teenager in England vielleicht selbstverständlich ist, gibt es hier ebenso wenig. Dafür wird in Tita Mattiussi gesteigerter Wert auf Zusammenhalt und gemeinsames Arbeiten gelegt.
Trotzdem wäre es keine Überraschung, wenn sie bald in einem Atemzug mit den berühmten Talentschmieden La Masia oder dem Cliff Training Ground in Manchester genannt wird.
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