Buenos Aires, in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Pferdefuhrwerke, Automobile und Busse, die auf den Straßen von Argentiniens Hauptstadt unterwegs sind, leuchten in allen Farben des Regenbogens. Sie sind über und über mit Schnörkeln, Girlanden und Blumen bemalt, mit Symbolen wie Füllhörnern, Vögeln und Drachenköpfen, mit Volksweisheiten und argentinischen Idolen wie dem Tangosänger Carlos Gardel oder der Jungfrau von Luján.
"Die Eigenschaften des Fileteado sind: lebhafte Farben, stilisierte Formen, ornamentale Buchstaben, eine Maltechnik, mit der eine dreidimensionale Wirkung erzielt wird, eine symmetrische Anordnung und eine starke Überfrachtung der eingesäumten Malfläche."
... beschreibt der Fileteado-Künstler Alfredo Genovese die Maltradition, die er und andere bis heute aufrechterhalten.
Produkt soziokultureller Vermischung
Aber, wer hat das Fileteado erfunden? Fest steht nur, dass Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als immer mehr europäische Einwanderer sich in Argentinien niederließen, in Buenos Aires die ersten Pferdekarren in diesem eigentümlichen Stil bemalt wurden. Der Anthropologe Norberto Cirio:
"Das Fileteado ist ein Produkt der soziokulturellen Vermischung, die in unserem Land Jahrhunderte lang stattgefunden hat. Es ist eine Tradition mit europäischen Wurzeln, vermutlich von Immigranten erschaffen. Aber sie entstand in Argentinien, und entwickelte sich hier fort."
Diebstahlversicherung für Pferdewagen
Von Anfang an koexistierten der praktische und der dekorative Aspekt des Fileteado. Für die Besitzer der Pferdefuhrwerke war die aufwendige Bemalung eine Art Diebstahlversicherung – jedes Gefährt war absolut einzigartig. Auf Bussen und Lieferwagen stand in Schnörkelschrift der Name der Firma oder Buslinie – der Rest war Verzierung. Mitte der 1970er Jahre aber verbot die Regierung von Buenos Aires die Bemalung der städtischen Busse, um die Fahrgäste nicht zu verwirren. Die Fileteado-Künstler mussten sich neue Malflächen suchen – und fanden sie: Häuser-Fassaden, Schilder, Schaufenster und Objekte wie Möbel oder Musikinstrumente. Norberto Cirio, Anthropologe:
"Das Fileteado hat nie aufgehört, zu existieren. Selbst in den schwierigsten Momenten gab es immer Fileteado-Künstler. Statt der Busse verzierten sie nun Cafés, Bars und Tango-Tanzsäle."
Belebend für die Volkskunst
Einst eher graue Stadtviertel von Buenos Aires wurden dank der Fileteado-Malereien bunt. Die Künstler begannen, ihre Werke zu verkaufen: an Einheimische und Touristen. Die Neuorientierung des Fileteado, die das Malverbot auf Bussen ausgelöst hatte, erwies sich als belebend für die Volkskunst. Alfredo Genovese bietet in seinem Atelier auch Kurse an:
"Es ist offensichtlich, dass das Fileteado wächst und sich weiterentwickelt. Heute interessieren sich dafür mehr Leute als früher, und viele wollen diese Maltradition erlernen. Ich glaube, auch deshalb hat die Unesco sie zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt."
Gemeinsamkeit mit Tango
Genovese würde sich wünschen, dass das Fileteado künftig an Kunsthochschulen unterrichtet wird. Nach der Auszeichnung durch die UNESCO obliegt es der Stadtregierung von Buenos Aires, den Brauch zu schützen und zu fördern. 2009 war bereits der Tango zum immateriellen Kulturerbe ernannt worden.
"Fileteado und Tango haben gemeinsam, dass sie in Buenos Aires entstanden, aber auch, dass es ursprünglich marginale Kunstformen waren, die heute etabliert sind."