Argentinien: Brot für viel Geld

von Andreas Fink, Euro am Sonntag

Man nehme: 1 Kilo Mehl Typ 000, 25 Gramm Salz, 1 Esslöffel Margarine, 1 Würfel Bierhefe und einen halben Liter Wasser. Dazu etwas Fett fürs Backblech. Diese Liste mit den Zutaten für 24 Brötchen, Typ Milonguita, stammt nicht aus einem Kochbuch, sondern von der Website der Verbraucherschutzbehörde der Republik Argentinien, einer Zweigstelle des Wirtschaftsministeriums. Mit Backrezepten antwortet die von Cristina Kirchner geführte Regierung auf die Tatsache, dass Brot heute fast doppelt so teuer ist wie zu Jahresanfang. Seit 2006 ist der Brotpreis gar um 700 Prozent gestiegen — in einer der fruchtbarsten Kornkammern der Welt.

20 Pesos pro Kilogramm „pan común“ verzeichnet die Preistafel in der Bäckerei Las Delicias im Hauptstadtviertel Villa Urquiza, einem Bezirk der Mittelschicht. Zum einfachen Brot zu umgerechnet 2,65 Euro pro Kilo zählen die langen Flautas, die kurzen Mignones und die mittellangen Milonguitas. 39 Pesos (5,20 Euro) kostet ein Dutzend Facturas, jenes Süßgebäck, das die Argentinier zum Frühstück und zum Nachmittagskaffee mit Genuss verzehren: Croissants, Blätterteigschnitten, Schmalzkrapfen und Kringel. Vor drei Jahren gab es das süße Dutzend noch für einen Zehn-Peso-Schein, der damals etwa zwei Euro wert war.

Das tägliche Brot ist Luxus geworden in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung weniger als 500 Euro im Monat verdient. Die Preise für alles, was aus Mehl fabriziert wird, also auch Nudeln und Pizza, sind noch wesentlich schneller gestiegen als die durchschnittliche Inflation, die seit 2007 jährlich zwischen 20 und 25 Prozent zulegte. Den aktuellen Preissprung erklären die Behörden mit einer Missernte. Doch die schlechteste Ausbeute seit 1899 ist nicht allein das Resultat widrigen Wetters. Sie ist auch die Folge einer bizarren Politik.

Argentinien ist — das erkennen Besucher schon beim Anflug auf den Hauptstadtflughafen — ein überaus gesegnetes Agrarland. Kurze Winter und feuchtwarme Sommer machen aus der fast 1.000 Kilometer breiten, flachen Pampa mit den dicken Humusböden ein äußerst produktives Treibhaus, das Nahrungsmittel für mehr als 300 Millionen Menschen produzieren könnte.

Tatsächlich ist die Agrarwirtschaft seit mehr als 100 Jahren auf den Export ausgerichtet. Lange war Argentinien der größte Fleischexporteur der Welt. Heute ist das Land aus den Top Ten am internationalen Fleischmarkt verschwunden. Und dieses Jahr wird die „Kornkammer der Welt“, wie die Argentinier ihr Land gern bezeichnen, auch nicht mehr zu den zehn größten Weizenlieferanten gehören.

Die Regierung hat das übrigens als Großtat verkauft. Denn Ende Juni, als die Brotpreise explodierten, verhängte Präsidentin Cristina Kirchner ein generelles Exportverbot für Weizen und zwang Großhandelsfirmen, zwei Millionen Tonnen, die für die Ausfuhr vorgesehen waren, auf den Inlandsmarkt umzuleiten. „Wir schützen die Tafel der Argentinier“ ist der bemühte Leitspruch, mit dem Kirchner ihre Interventionen schönredet.

Der Traum vom Schlaraffenland
Um diese Geschichte zu erklären, bedarf es eines Rückblicks. Nach dem Staatsbankrott 2002 wurde der Peso um zwei Drittel abgewertet, wodurch 56 Prozent des Volkes zunächst unter die Armutsgrenze rutschten. Doch für den Agrarsektor war die Möglichkeit, zu einem Drittel der bisherigen Kosten zu produzieren, ein gigantischer Wettbewerbsvorteil. Angetrieben von Asiens Rohstoffhunger brachte „el campo“ (der Acker) das Land erstaunlich schnell wieder auf die Beine. Zwischen 2003 und 2005 wuchs die Wirtschaft jährlich um über acht Prozent, die Leute begannen wieder zu konsumieren.

Die Regierung des 2003 angetretenen Néstor Kirchner fachte die Kauflaune mit kräftigen Subventionen für Wasser, Energie und öffentliche Verkehrsmittel an. Doch es sollte nicht lange dauern, ehe diese Fiesta ihre ersten Folgen zeigte: Im September 2005 überschritt die Inflationsrate erstmals seit dem Absturz die Zehn-Prozent-Marke.

Kirchner reagierte mit einem Griff in die ökonomischen Mottenkiste. Er verhängte Exportbeschränkungen und zeitweise komplette Verbote für das, was die Argentinier besonders gern konsumieren: Fleisch und Weizen. Das Resultat war wunderbar — auf den ersten Biss. In den Supermärkten wurden nun die schmackhaftesten Exportsteaks für zwei Euro pro Kilo verhökert, und ein Kilo Brot kostete umgerechnet 60 Cent. Doch lange währte er nicht, der Traum vom Schlaraffenland.
Denn jene, die ihn mit 40 bis 50 Prozent ihrer bisherigen Einkünfte bezahlen sollten, machten nicht mit.

Viele Landwirte, die bis zur staatlichen Intervention bis zu 17 Millionen Tonnen Weizen im Jahr produziert hatten, stiegen auf Getreide wie Gerste und Soja um, die im Land kaum konsumiert werden. Argentiniens Weizenproduktion fiel auf neun Millionen Tonnen im Jahr, wovon der Inlandsmarkt etwa zwei Drittel vertilgte. Die Anbaufläche reduzierte sich Jahr für Jahr, bis 2012 die geringste Aussaat seit 111 Jahren gemeldet wurde. Ein ungewöhnlich feuchtes Frühjahr ließ zudem einen Pilz gedeihen, der etwa 30 Prozent der Ernte unbrauchbar machte.

In der Folge explodierte der Weizenpreis förmlich. Eine Tonne kostete im Juni bis zu 520 Dollar, das Doppelte des Weltmarktpreises. In den meisten Ländern würde die Regierung in dieser Situation versuchen, Weizen zu importieren. Doch Argentiniens Regierung reagierte mit dem Motto „Achten wir auf das Unsere!“ und verbot alle Exporte. Während Zeitungen berichteten, dass Flussfähren unter Duldung der Behörden tonnenweise Mehl und Getreide von Uruguay nach Argentinien schipperten, setzte der mächtige Staatssekretär für den Binnenhandel Guillermo Moreno ein Notstandsgesetz in Kraft. Das erlaubte den Behörden, alles gehortete Getreide zu beschlagnahmen.
Moreno zwang die Supermarktketten dazu, Brot für zehn Pesos pro Kilo anzubieten. Doch dieses Backwerk ist stets spätestens um zehn Uhr morgens ausverkauft.

Im Clinch mit den Agrarverbänden
Seit Jahren liegt die Regierung Kirchner mit den Agrarverbänden im Clinch. Obwohl „el campo“ der größte Devisenbringer des Landes ist, gibt es seit Jahren kaum Gespräche zwischen beiden Seiten. Die Resultate dieser Eiszeit sind verheerend, auch in der Milch- und Fleischindustrie: Der Rinderbestand in der Pampa ging seit 2007 von 60 Millionen Stück Vieh auf 50 Millionen zurück. Der ehedem wichtigste Fleischexporteur der Welt lag 2012 mit 180.000 ausgeführten Tonnen auf Platz 11. Selbst das Drei-Millionen-Einwohner-Land Uruguay, in dem nur zehn Millionen Rinder grasen, exportiert mehr als Argentinien.

Weil viele ehemalige Exportfleischproduzenten ihre Weiden nun an Sojapools verpachtet haben, erfüllt Argentinien seit drei Jahren nicht mal mehr die sogenannte Hilton-Quote, die es dem südamerikanischen Land erlaubt, jährlich 28.000 Tonnen Beef aus Weidemast zollfrei in die EU einzuführen.

Die Probleme, die Produzenten mit all jenen Produkten haben, die zur „Tafel der Argentinier“ gehören, führten letzten Endes dazu, dass ein Großteil der Pampa heute mit Sojamonokulturen bedeckt ist, deren Früchte fast komplett nach China verkauft werden, wo sie Schweinemägen füllen. „Letzten Endes bewirkte der Protektionismus der Regierung, dass wir mehr exportieren denn je“, sagt Gustavo López von der Beratungsfirma Agrotrend.

Derweil werden Brot und Fleisch, aber auch Milch ständig teurer. Kürzlich meldete die Tageszeitung „La Nación“, dass ein Liter Vollmilch in Buenos Aires mehr kostet als in London, Paris und New York. Die Quittung dafür bekam die Regierung am 11. August. In Vorwahlen stürzte die Regierungspartei, die 2011 noch 54 Prozent geholt hatte, auf 26 Prozent ab. Sollte sich dieser Trend bei den Parlamentswahlen im Oktober bestätigen, wird es keine Verfassungsänderung geben und damit auch keine dritte Amtszeit für Cristina Kirchner nach 2015.

Dieser Tage endete in der Pampa die Winteraussaat. Die Getreidebörse in Rosario meldete, dass Weizenkörner auf 3,9 Millionen Hektar verteilt worden seien, das sind fast 20 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Wenn das Wetter mitspielt, müsste kommendes Jahr genug Mehl für die „Tafel der Argentinier“ da sein. Dass deshalb die Preise sinken, erwartet allerdings niemand.

Investor-Info

Argentinien
Das Land in Kürze

Mit knapp 2,8 Millionen Quadratkilometern ist Argentinien nach Brasilien das zweitgrößte Land Südamerikas. Rund 40 Millionen Menschen leben dort. In den 90er-Jahren glänzte Argentinien mit finanzieller Stabilität und erfolgreichen Marktreformen. Doch unter der Regierung von Carlos Menem stieg auch die Staatsverschuldung stetig an. 2001/2002 schlitterte das Land in den bis dahin größten Staatsbankrott der Geschichte. Anleiheschulden im Wert von mehr als 100 Milliarden US-Dollar waren betroffen. Bis heute kämpfen einige Gläubiger um ihr Recht. Für das Land war die Pleite jedoch ein Neuanfang. Bereits in der zweiten Jahreshälfte 2002 wuchs die Wirtschaft wieder. Auch in den Folgejahren hielt die Erholung an — dank des weltweiten Aufschwungs. Immer stärker verfolgte die Regierung Kirchner in den vergangenen Jahren aber eine protektionistische Politik, die für extrem hohe Inflationsraten von 20 bis 25 Prozent im Land sorgt.

Landwirtschaft
Soja statt Weizen

Die Exportverbote der Regierung für Weizen schnitten Argentiniens Bauern vom Weltmarkt ab, auf dem sie höhere Preise erzielen konnten. In der Folge schwenkten viele auf den Anbau von Sojabohnen um. Diese werden vorwiegend nach China verkauft. Beim Export von Sojaöl, -mehl und aus Soja hergestelltem Biodiesel ist Argentinien mittlerweile Weltmarktführer. Dafür hat sich das Land aus der Top Ten der Weizenexporteure verabschiedet.

Agrarrohstoffe
Eher langfristig interessant

Die Preise für Agrarrohstoffe stehen wegen der guten Wachstumsbedingungen in diesem Jahr unter Druck. Für anziehende Notierungen etwa bei Mais und Soja könnte aber das heiße und trockene Wetter im mittleren Westen der USA sorgen, das die Ernteerträge gefährdet. Auch langfristig spricht viel für teurere Agrarrohstoffe: eine wachsende Weltbevölkerung und Verknappung der Anbauflächen. Wer breit gestreut auf eine Erholung der Agrargüter setzen will, kann dies mit einem Indexzertifikat, das die Preisentwicklung von Mais, Kaffee, Baumwolle, Weizen, Zucker, Sojabohnen und Sojaöl nachvollzieht.

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