In Buenos Aires suchte ich eine billige Unterkunft, um einen Roman namens „Erdnussbutter“ fertigzuschreiben, in dem ich die Neunzigerjahre, wie ich sie empfand, abbilden wollte. Die Pension Independencia in der San Telmo war mir sympathisch, ein heruntergekommenes Haus, an dessen Tor ein überdimensionaler Goldklopfer prangte, den ich betätigte. Lange öffnete niemand. Ich wollte schon weiterziehen, als das Tor aufging und ein unerhört dünner, zumindest 1,90 m großer Mann in einem dunkelbraunen Schlafanzug vor mir stand. Sein Bart sah verwahrlost aus. Ich trug ihm mein Anliegen vor – ein Zimmer für einen Monat. Der Hagere nickte und deutete mir einzutreten. Eine Wolke von Alkoholausdünstungen umhüllte ihn. Ich folgte ihm in den zweiten Stock. Er öffnete die Tür zu einem Raum mit dicht verschlossenen Vorhängen. Es roch, dampfte geradezu, ich nahm Essensreste, Dreck, Wäsche, Fusel wahr. Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, sah ich zuerst ein paar hundert leere Bierflaschen auf dem Boden stehen. Zwei Betten zeichneten sich in den gegenüberliegenden Ecken ab. Eines war mit einem dreckigen Leintuch bezogen – „mi cama“, sagte der Hagere –, das andere war unbezogen. Er streckte einen langen, schiefen Finger aus: „Tu cama.“ Ich gab ihm zu verstehen, dass eine Unterkunft in seinem Schlafzimmer nicht das war, was ich suchte. Ich wolle ein Zimmer mit Schreibtisch und Aussicht. Zu meiner Überraschung nickte er.
Aus dem Fenster des wunderbaren, kleinen Zimmers im vierten Stock sah man fast bis La Boca. Ein winziger Schreibtisch stand davor. Der Hagere nannte den Preis, streckte mir die Hand hin, ich schlug ein. Bad und WC, Gemeinschaftseinrichtungen, gab es am Ende des Flurs. Die Dusche hing in einem gekachelten, etwa 30 Quadratmeter großen Raum mit Abfluss. Von innen konnte man nicht absperren. Immer, wenn ich sie betrat, hörte ich schon die Schritte des Hageren im Stiegenhaus. Er machte es sich zur Gewohnheit, die Tür zu öffnen und einen Blick auf mich beim Duschen zu werfen. Er starrte kurz und irritiert zu mir hin, ich rief „ocupado!“, er entschuldigte sich höflich und zog sich zurück. Das reichte ihm. Die Belästigungen gingen nie darüber hinaus. Auf dieser Basis kamen der Hagere und ich wunderbar miteinander aus, und als ich am Ende die San Telmo verließ, umarmten wir uns kurz wie Brüder. Ich solle wiederkommen, sagte der Hagere. Ich versprach es ihm.