Die Gewalt nahm ihren Anfang in San Carlos de Bariloche, einem argentinischen Ferienparadies. Vermummte stürmten am Donnerstag in den frühen Morgenstunden einen Supermarkt, beluden Einkaufswagen und leerten das Geschäft so in kürzester Zeit.
Die Polizei traf erst nach eineinhalb Stunden ein – und viele Bewohner der kleinen Stadt fragten sich, warum die Polizei so lange brauchte. Dieser Überfall wirkte wie ein Fanal. In 40 Städten kam es zu ähnlichen Plünderungen, so etwa in Rosario, der Hauptstadt des reichen Bundesstaates Santa Fé. Dort gab es sogar zwei Tote.
Nach Angaben des Verbandes der Mittelständischen Industrie (Came) vom Wochenende wurden mehr als 500 Geschäfte geplündert, darunter 292 Supermärkte, aber auch Apotheken, Schuhgeschäfte, Elektrofachgeschäfte und sogar Spielzeugläden. Dabei wurden auch Kassen aufgebrochen.
"Einfacher Vandalismus", das Einschlagen von Scheiben etwa, wurde von Came schon gar nicht mehr eingerechnet.
500 Verhaftete im ganzen Land
Argentiniens Sicherheitsministerium sprach am Wochenende von 500 Verhafteten im ganzen Land und ordnete vor allem die Bewachung von Supermärkten in der Hauptstadt und den angrenzenden Satellitenstädten an.
Sie liegen in der Provinz Buenos Aires, einer Hochburg der landesweit regierenden peronistischen Partei. Doch die Gräben innerhalb des Peronismus haben sich dramatisch vertieft. Die Regierung von Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner steht mit ihrer Wahlallianz "Front für den Sieg" in offener Gegnerschaft zum peronistischen Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Daniel Scioli.
Auch hatte die Präsidentin schon vor Längerem dem Chef der mächtigen Lastwagengewerkschaft, Hugo Moyano, den Krieg erklärt – früher einer der engsten Verbündeten ihres 2009 verstorbenen Mannes Néstor Kirchner, von 2003 bis 2008 Präsident Argentiniens.
Gewerkschaft gibt Regierung die Schuld
Die Präsidentin beschuldigte Moyano, hinter den Plünderungen zu stehen. Antonio Caló, Generalsekretär des regierungsnahen Gewerkschaftsbundes CGT, solidarisierte sich mit Moyano und wies die Anschuldigungen als "absurd" zurück.
Luis Barrionuevo, der Führer der regierungskritischen Gewerkschaft CGT Azul y Blanco, behauptete, die Regierung trage die Schuld an den Plünderungen, denn sie habe den sozialen Sprengstoff, der sich in vielen Armenviertel angestaut habe, völlig unterschätzt. "Die müssen jetzt die Verantwortung dafür übernehmen, dass sie unfähig sind, Argentinien zu regieren", sagte Barrionuevo.
Richtig ist, dass Moyano erst am 19. Dezember in Buenos Aires eine große, friedliche Massenveranstaltung gegen die Präsidentin organisierte. Richtig ist aber auch, dass sich manche regierungsnahe Organisationen zu Gewalt bekennen, so etwa Quebracho. Ihr Anführer Fernando Esteche ist regelmäßiger Ehrengast bei Veranstaltungen der Präsidentin.
Inflationsrate wohl über 25 Prozent
Der Publizist Joaquín Morales Solá weist darauf hin, dass gerade Cristina Kirchner – wie zuvor ihr Mann auch – alle Mittel ausgeschöpft habe, um ihre Regierung als wirtschaftlich erfolgreich hinzustellen.
Tatsächlich gab es nach der schweren Wirtschaftskrise vor gut zehn Jahren Zeiten kräftigen Wachstums. Das basierte auf dem Exportboom von Soja nach Asien sowie auf den hohen Preisen anderer argentinischer Landwirtschaftsprodukte. Gleichzeitig wurden die Preise für Strom, Gas, Wasser und Benzin eingefroren.
Als die staatliche Statistikbehörde Indec steigende Inflationsraten auswies, versuchte die Regierung, die Publikation abweichender Zahlen zu unterbinden. So liegt die Inflationsrate laut Regierung bei zwölf Prozent, in Wirklichkeit aber vermutlich über 25 Prozent. Das Wirtschaftswachstum für das nächste Jahr wird auf 2,5 bis 3,5 Prozent geschätzt, je nach Sojaernte.
Beide Kirchners haben es verstanden, sich durch ein immer engeres Netz von Sozialhilfen politische Unterstützung zu sichern. Dabei habe aber eine ganze Generation das Arbeiten verlernt, sagt Solá – zumindest in der offiziellen Wirtschaft.
Mittlerweile könne man davon ausgehen, dass 60 Prozent der in der Privatwirtschaft entstandenen Arbeit "schwarz" geleistet werde.
Besitzer schlafen bewaffnet in ihren Läden
In Rosario bereiten sich die Ladenbesitzer auf weitere Plünderungen vor. Viele schlafen in ihren Läden, einige von ihnen bewaffnet, untereinander sind sie regelmäßig über Handys in Kontakt.
Einer von ihnen, Blas Contreras, wurde bekannt, weil er versuchte, eine Gruppe von Angreifern mit einem Schlagstock abzuwehren. Es waren keine Fremden: "Es tut mir furchtbar leid, aber ich kenne sie fast alle", sagt Contreras.
An die Sicherheitskräfte glaubt er nicht mehr: "Ich habe zwei Polizisten sogar Geld gegeben, damit sie mein Geschäft beschützen. Aber als es brenzlig wurde, zogen die einfach ab."
Für Hermes Binner, den sozialistischen Gouverneur der Provinz, waren die Plünderungen "von langer Hand geplant" und müssten deshalb "mit aller Härte des Gesetzes" geahndet werden.
Glaube an Rechtsstaat geht verloren
Das klingt gut. Allerdings zeigen Umfragen, dass viele Argentinier den Glauben an einen funktionierenden Rechtsstaat verloren haben.
Für den Politikwissenschaftler Rosendo Fraga erklärt das auch das Phänomen der sogenannten Piquetes, der Besetzung und Absperrung von Straßen und ganzen Vierteln: Sie haben von 2011 bis 2012 um 52 Prozent zugenommen. Argentinien verfestigt in rasantem Tempo seinen Ruf als schwer regierbares Land.
Proteste gegen Präsidentin Cristina Kirchner
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